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Schöneberg

Jackie Thomae

16_Thomae_Schöneberg © privat

Anfang des Jahrtausends zog ich von Neukölln nach Schöneberg. Ein anachronistischer Move. In Neukölln hatten wir gewohnt, weil wir arm waren und weil im benachbarten Kreuzberg nichts zu finden war. Nach Schöneberg zog ich zurück, weil es der Lieblingsbezirk meiner Anfangsjahre gewesen war. Alle anderen, die ich kannte, zog es zu der Zeit in den Osten. Man hätte sagen können, dass Schöneberg gerade einen Niedergang durchlief. Man erkannte ihn an den Läden, aus denen man billig in alle möglichen Länder telefonieren konnte. Man erkannte ihn daran, dass es Straßen gab, in denen seit zehn Jahren außer diesen Telefonläden und Automatenspielotheken kein neuer Laden aufgemacht hatte. Man erkannte ihn an der allgemeinen Trägheit der Leute, die so wirkten, als steckten sie in der Zeit kurz vor dem Mauerfall fest. Der Kleistpark war nie wirklich schön gewesen, jetzt gehörte er zu den Gegenden Westberlins, die Neuankömmlinge aufgrund dieser Anti-Aufbruchsstimmung versehentlich (und ignorant und saudumm) für den Osten hielten. Ich verachtete die Provinzmentalität meiner Freunde, für die Berlin nur aus Mitte und Teilen des Prenzlauer Bergs bestand, und klammerte mich an die Pluspunkte Schönebergs: seine Unaufgeregtheit. Die alteingesessenen Gastronomen. Meine riesige Wohnung mit einem Balkon hinaus auf den Langenscheidtverlag. Die bestens sortierten türkischen Lebensmittelläden, die Asia-Supermärkte und Afroshops, die zeigten, dass der Bezirk es nicht nötig hatte, Leute aus aller Welt anzuziehen, sie waren schon lange da.

2006 zog ich zurück in den sogenannten Osten. Ich hatte begriffen, dass mein Herumziehen in dieser Stadt schon lange nichts mehr mit Ost oder West zu tun hatte, sondern mein Versuch war, den passenden Ort für meine jeweilige Lebensphase und -stimmung zu finden. Es wäre weniger aufwendig gewesen, mein jeweiliges Lebensgefühl durch eine Frisur auszudrücken, doch Berlin machte es möglich. Ein Luxus. Im Moment lebe ich in Mitte und habe zum ersten Mal, seit ich in dieser Stadt lebe, nicht das Gefühl, weiterziehen zu müssen. Vielleicht liegt es daran, dass ich mittelalt bin. Ein grässliches Wort, ein guter Zustand.

 


 

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Dieser »Stoff« ist Teil von »Stoffe: Ostdeutsche Kindheiten«.

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