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Schabernack

Timm Völker

Als ich vierzehn Jahre alt war, entdeckte ich die Textfunktion auf dem Computer meiner Eltern. Es muss ein Nachmittag in den frühen 2000ern gewesen sein, an dem ich versehentlich die rechte Maustaste drückte und ein „Neues Dokument“ erstellte. Ich füllte dieses digitale Blatt mit mehr oder minder reimendem Text. Warum ich gerade Geschichte oder Gereimtes schrieb, weiß ich nicht, aber ich war begeistert von der Entstehung der Worte, die auf dem Bildschirm erschienen.

 

Ich kannte dieses Phänomen schon von einer elektronischen Schreibmaschine, deren Hämmer mit der Kraft kleiner Motoren die Buchstaben auf das Papier schlugen. Die motorisierte Schreibmaschine war die erste Stufe der Erleichterung für Vielschreiber. Erleichterung heißt ja am Ende aber auch nicht entspannteres Arbeiten, sondern eröffnet die Möglichkeit, mehr zu leisten in der selben Zeit. Die Brother-Maschine gehörte meinem Onkel, der damals Stundent war und manchmal beobachtete ich ihn dabei, wie er darauf ziemlich schnell tippte. Ich konnte nicht schnell tippen. Also kam mir mein geräuschvolles Hacken, wenn ich an dem Gerät saß, bald zäh vor.

 

Es gab einen entscheidenden Unterschied zwischen Schreibmaschine und Computer. Bei ersterer waren Fehler nicht so einfach reversibel, es gab Tipp-Ex, aber die Ergebnisse waren furchtbar, wenn nicht sogar die Maschine kaputt ging. Das bedeutete dann, alles nochmal neu schreiben zu müssen. Und als ich darauf keine Lust mehr hatte, habe ich einfach die Leertaste ganz oft hintereinander gedrückt und mich an dem maschinellen waffenartigen Geräusch erfreut, dass dann entstand. Beim Rechner wiederum konnte ich Zeichen unkompliziert löschen, wenn ich mich vertippte; wichtiger aber, ich konnte zügig komplette Worte und damit den Sinn des Geschriebenen ändern, die Texte verwandeln, umformen. Schriftarten sowieso. Das gestalterische Element, es war ein wichtiger Bestandteil der Spielerei.

 

Ich frage mich, woher die Worte kamen, die Gedanken, die ich da aneinander packte. Rückblickend erinnere ich mich an Erleichterung. Auf dem Bildschirm sind Gedanken entstanden, für die ich in meinem vierzehnjährigen Alltag bisher keinen Ort hatte. Ich weiß noch, dass ein Text abstrus und naiv, aber auch etwas derb eine in die Jahre gekommene Beziehung thematisierte. An dieser Stelle ein Dank an meine Mutter, die mir die Tagebücher von Kurt Cobain zum Geburtstag schenkte. Da las ich einen Eintrag, in dem Cobain beschreibt, wie er alle seine Bukowski Bücher verbrannt hat, woraufhin ich mir die drei pinken Fischerbände mit Bukowski Short Stories über Ebay besorgte und völlig begeistert war, als dieser Bukowski nicht wie von mir befürchtet ein komplizierter Russe war, den ich nicht verstehen würde, sondern in einer einfachen, derben und poetischen Sprache Geschichten aus einem Leben erzählte. Das war mein schreiberisches Punk-Erweckungserlebnis und ich dachte (völlig naiv): „So was kann ich auch!“ Und tippte derbes Zeug in den Rechner.

 

Das Fundament meines Erzählens geht von den Erinnerungen aus, vom Erlebten. Diese Bilder sind die emotionale Grundlage für das was nach mehr oder weniger weiten Wegen der Umformung zu Text wird. Es entstehen auf diesen Grundlagen auch Gedanken und Zusammenhänge, die erst beim Rückblick auf vergangene Situationen entstehen, für die damals gar kein Platz war im Erleben. Also wenn ich zum Beispiel von meinem Onkel erzähle, der an dem flachen braunen Tisch im Wohnzimmer meiner Eltern tippt, während er auf meine Schwester und mich aufpasst, dann sehe ich erst jetzt, wie die helle Auslegware kleine Fusseln von seinen weißen Socken aufnimmt, weil er mit seinen Füßen beim Tippen wippte (sicher etwas für sein Jurastudium). Und wenn ich will, kann ich jetzt Rauch unter seinen Füßen entstehen lassen, der zu einem indianischen Ritual wird. Das Haus fängt an zu atmen und die alten Nachbarn in der riesigen Wohnung darunter stimmen dumpfe Gesänge an und ich als Kind liege im Bett und sage mir, dass es doch nur der Regenwind ist, der durchs kaputte Dach pfeift und mich aus meinem Halbschlaf weckt, weil ein paar Tropfen durch die aufgeweichte Tapete an der Decke auf mein Gesicht fallen.

 

Was fange ich jetzt mit diesen Tropfen an? Beweisen sie irgendjemandem, dass ich da wirklich dabei war? Muss ich das? Ich glaube nicht. Sind diese Tropfen nass, wenn sie jetzt hier auf das digitale Blatt fallen? Wellt sich der Bildschirm, wenn er nass wird?

 

Was suchen die Menschen denn, wenn sie die Worte anderer Menschen lesen oder hören? Ich schreibe „hören“, weil ich vorrangig aus der Perspektive eines Songschreibers spreche. Ich glaube wir wollen spüren, was die Person empfindet, die uns etwas in Worten mitteilt, damit in uns selbst etwas entstehen kannn, wir uns ins Verhältnis zu dem setzen, was erzählt wird.

 

Ich glaube auch, dass es weniger wichtig für die Rezipienten ist, dass die Bilder eine reale Quelle haben, als für die Autorin oder den Autor im Moment des Schreibens, weil erst dann Verwandlung und Schabernack damit möglich wird. Dieser Schabernack braucht ja einen realen Boden, um mehr zu werden als reine Wirklichkeitsabbildung. Vorhin beim Frühstück habe ich ein Erdbeermarmeladenbrötchen gegessen und als nur noch ein kleines Stück übrig war, dieses zusammengeklappt und dabei quoll etwas von der roten Marmelade an der Seite heraus. Und da verwandelte ich das Brötchen in ein bleiches Krabbenmonster mit roten Augen wie die Glückskekse beim Wiedersehensessen in der alten (und, seien wir ehrlich: besseren) „ES“ Verfilmung.

 

Das, was im Text mitgeteilt wird, muss nicht real erlebt worden sein, aber braucht eine reale Grundlage, so wie die hellgraue Auslegware im Wohnzimmer unter den Teenagerfüßen, wo die Marmeladenfinger auf der elektrischen Schreibmaschine Schabernack treiben und die Geschichte weiterschreiben.

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