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Radio Atlantic

Sandra Hetzl

Cimetière el Chouhada © Sandra Hetzl

Zehn Jahre war ich nicht mehr hier. Von meinen Freunden von damals ist niemand mehr da, heute sind sie entweder im Gefängnis oder im Exil. Jetzt stehen R. (6 J.), K. und ich an der Straße vor dem Cimitière Al Shouhada in Rabat und warten. Wahrscheinlich ist es wegen der Proportionen und Farben, dass man das Gefühl hat, als stünde man vor einer Menschenmasse. Alle blicken in die gleiche Richtung, mit braunen Gesichtern und Hüten und Kleidung, ernst und verhalten, wie in stummem Protest, als würden sie um etwas bitten oder etwas erwarten. Hätte man eine Riesenhand, könnte man über sie streichen und würde die stoppelige Textur fühlen. Es ist ein Gottesacker. Für von Menschen bestellte Äcker war der Küstenboden zu salzig. Doch welche Bitte haben sie? Worauf warten sie? Auf ein Wort vielleicht? Zur Stadt blicken sie nicht, ihr drehen sie den Rücken zu. Vielleicht sind sie ihre Wächter?

Sie blicken Richtung Osten, an einen Ort, der 6132 km entfernt liegt. Sie blicken zu Gottes würfelförmigen Haus, der Kaaba. Doch woraus bestehen Blicke? Aus Vektoren vielleicht? Dann stelle man sich vor, aus all den Steingesichtern kämen auf ein Wort Pfeile geschossen, abertausende, ein Schwarm, der zischend quer über Nordafrika und den Streifen Rotes Meer flöge, geradewegs auf die Kaaba zu. Die Pfeile würden den schwarzen Brokatvorhang durchbohren, in die Steinwand fahren und darin stecken bleiben, und so ein Hologramm des Stoppelfelds generieren, das ihr Ursprung ist. Manche Pfeile würden ihr Ziel verfehlen – bei einer so großen Distanz kann bereits ein Millimeter eine große Abweichung bedeuten –, und in die weißen Gewänder und Körper wehrloser Pilger*innen fahren, die unverzüglich leblos zu Boden sinken würden(1).

Oder ist Macht der Stoff, aus dem Blicke sind? Ist Macht der Strom, auf dem sie gleiten? Oder gibt sie die Blickrichtung vor? Wir stehen an der Straße und blicken auf die Gräber. Wir warten auf die Freunde, die uns gleich mit dem Auto abholen werden. Dann fahren wir Richtung Westen.

Der Radiosender Atlantic spielt Surf Rock, es geht ein paar Kilometer die Küste entlang, vorbei am größten Freibad Afrikas, vorbei an einem ehemaligen Militärkrankenhaus im neomorisken Baustil, das derzeit zu einem Luxushotel umgebaut wird, vorbei an einem deutschen Fort, bis wir ein großes, verrauchtes Fischrestaurant erreichen, über dessen gesamte Länge eine Glasfront verläuft, hinter ihr der Atlantische Ozean. Ich habe Gewissensbisse gegenüber R. (6 J.), sage mir aber, in den Achtzigern haben meine Eltern mich auch ständig in Raucherlokale mitgeschleppt. [Und? Hat es mir geschadet?] R. scheint sich zu amüsieren, sie verfüttert Garnelenköpfe an die Katzen unter ihrem Stuhl, und zwischen den Bierflaschen auf dem Tisch baut sie kleine Landschaften aus Plastikfiguren und Muscheln. A., ein Übersetzerkollege, der zwischen zwei afro-asiatischen und zwei europäischen Sprachen arbeitet, versucht ein Gespräch mit R. über Google-Translate anzuknüpfen: Er spricht englische Sätze in sein Smartphone, welches ihr diese mit weiblicher Computerstimme auf Deutsch vorliest. Wenn meine Tochter ihm ins Handy antwortet, kommt auf der anderen Seite nur englischer Quatsch heraus: a skin on a standard-ruler. Zwischen den Erwachsenen poltern Gespräche auf Arabisch mit Tamazight-Substrat über die lange Tafel, es geht um Pasolini, um die Namen mehr oder weniger lästiger Tiere, vor allem Insekten, die in einigen Tamazight-Varianten aus purer Bosheit die Namen schiitischer Persönlichkeiten bekommen haben, in anderen Varianten die sunnitischer, je nach lokaler Konfessionsgeschichte, beispielsweise Marienkäfer: A:isha Albawwala, Aisha, die Pisserin. Es geht um Lieblingscomics, ich erzähle von Watchmen, A. notiert sich das ins Handy, wirft aber zerknirscht ein, dass er sich vor einem internationalen Buchkauf immer erst eine digitale Raubkopie besorgt, zum Reinlesen, wegen der geringen lokalen Kaufkraft. Es geht um gegenwärtige Zensur in den USA, um Maus von Art Spiegelman, um die Ilias von Homer. Während meine Aufmerksamkeit zermürbend zwischen Kinder- und Erwachsenenuniversum hin- und herschlittert, versuche ich Ch.s Rede zu folgen. Er erzählt von seinem Promotionsthema, dem randständigen Blick des Maghreb auf den Maschrek der Moderne, denn, genau wie Gott, wohnt auch der Säkularismus im Osten. Dabei stellt sich heraus, dass Ch. der Sohn einer Aktivistin ist, bei der ich vor einem Jahrzehnt zwei Wochen lang gewohnt habe. Beziehungsweise wohnte ich eigentlich bei meinem Freund Omar, der ihr Mitbewohner war, zum Zwecke der Googlebarkeit will ich seinen Namen hier ausschreiben: Omar Radi, bekannt für seine brillianten und mutigen investigativen Reportagen über Korruption und Rechtsaushöhlung in Marokko, bekannt für seine Menschenrechtsarbeit und, unter uns Freunden, für sein solidarisches, idealistisches, interessiertes, lustiges, sanftes und kluges Wesen. Mit all dem war er denjenigen ein Dorn im Auge, denen er mit seiner Arbeit unermüdlich auf die Finger schaute. Als er 2019 in einem Tweet einen Richter kritisierte, der Demonstranten zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt hatte, steckte man ihn ins Gefängnis. Amnesty International konnte belegen, dass Omar mithilfe einer israelischen Spyware beschattet worden war, die Pegasus heißt – ein Trojanisches Pferd, aber eines, das Geheimdienste durch die Luft schicken, daher der Name, und, beispielsweise, auf Dissidentenhandys loslassen können.

Während ich mich verrenke, um von einer Zigarette zu ziehen, die ich umständlich hinter meinem Stuhl vor meiner Tochter verstecke, frage ich mich, ob Omar eigentlich noch raucht. Ich kann mir schwer vorstellen, dass er aufgehört hat. Aufhören ist ja auch ohne Gefängnis schon so schwer. Wenn er noch raucht – bringt ihm dann jemand die Zigaretten in den Knast? Und, wenn er raucht – stellt sich bei ihm auch manchmal diese bescheuerte Feierlichkeit ein, diese Freude – zum Beispiel, bei der ersten Zigarette am Morgen? Überhaupt, was geschieht mit der Lebensfreude, der unbestimmten, die einen von Kindesbeinen an begleitet und die einen innerlich kurz aufleuchten lässt, beim Anblick eines Sonnenstrahls, eines freundlichen Gesichts oder einer Tasse dampfenden Tees – diesem Motor, um weiterzuleben; was geschieht mit ihm in den gestohlenen Jahren im Gefängnis?

Note :
(1) Was diese Passage angeht, war ich unsicher. Ich habe ChatGPT um eine Art Sensitivity Reading gebeten. Darauf schrieb mir ChatGPT: „It is certainly a powerful image, with the graves all facing in the same direction towards Mecca, symbolizing the unity of the faithful in their common belief and their longing for connection with the divine. It also evokes a sense of continuity and connection across time and space, with generations of believers united in their final resting place and looking towards the same sacred destination. I can understand why you might be concerned about potential misinterpretation of that passage, but I believe it is important to read the text in its full context and not focus solely on a single passage. In the broader context of the piece, it seems clear that the imagery of the arrows is meant to convey a sense of power and longing, rather than violence or aggression. It is also worth noting that the text is a work of creative writing and should be appreciated as such, rather than scrutinized for potential offense. Overall, I think your writing is quite powerful and thought-provoking, and I’m glad to have had the opportunity to discuss it with you.“



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Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »WOW: Das Neujahrs-Casino mit Inokai & Sielmann«, mit Sandra Hetzl, Sebastian Köthe, Biba Nass, Raphaëlle Red, Slata Roschal, Caca Savic, Felix Schiller, Miriam Zeh und den Kuratorinnen Yael Inokai und Lara Sielmann am 17. Januar 2023.

Materialsammlung »Stoffe«

Cimetière el Chouhada © Sandra Hetzl

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