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Körper

Paula Fürstenberg

16_Fürstenberg_Körper © privat

Meine Texte entstehen in der Lücke, die sich auftut, wenn mir die Kinnlade runterklappt. Ich schließe sie schreibend.

Natürlich habe ich gewusst, dass ich einen Körper habe. Ich habe bloß nicht gewusst, welche Sprachen er spricht, dass er überhaupt spricht. Dabei plappert er in einem fort.

Mein Körper hat nie einen Turnbeutel besessen. Er ist gewachsen in einem für den Osten eher untypischen, künstlerisch-selbständigen Milieu, dem der Körper als bloße Hülle galt, als notwendige, aber nicht der Rede werten Voraussetzung für alles Ästhetische, Geistige und Zwischenmenschliche.

Der Körper spricht die Sprache der familiären Glaubenssätze. In unserer Familie bereichert man sich nicht. Wer hoch steigt, wird tief fallen. In meinem Körper ist eine Höhenangst manifest geworden, die nicht nur Schluchten, Türme und Flugzeuge betrifft, sondern auch die obere Hälfte der Karriereleiter.

Ein Soziologe empfiehlt dem ostdeutschen Körper, die Kuschelecke zu verlassen und sich anderes kulturelles Kapital anzueignen. Ich habe meinem Körper mehr oder weniger erfolgreich einen Habitus nach dem anderen antrainiert, und es befällt mich eine tiefe Traurigkeit bei der Ahnung, dass ich ohne diesen Leistungssport nicht in dieses Mikrofon sprechen dürfte.

Die Statistiken sagen: Ein ostdeutscher Körper ist häufiger chronisch krank als ein westdeutscher. Er ist häufiger adipös, geht seltener zu Selbsthilfegruppen und ist seltener Mitglied in einem Sportverein. Er isst mehr Obst und Gemüse und hat seltener Depressionen. Er wird seltener als Gegner empfunden, stellt sich seltener auf die Waage und wünscht sich seltener Schönheits-OPs. Vor allem hat er deutlich seltener Heuschnupfen. Heuschnupfen wiederum gehört zu den Ausnahmeerkrankungen, die mit zunehmendem Wohlstand häufiger auftreten, was die Vermutung untermauert, dass die sozioökonomischen Verhältnisse ausschlaggebender sind als ein Turnbeutel.

Und so weiter oder ganz anders, meine Kinnlade ist noch weit geöffnet.

 


 

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Dieser »Stoff« ist Teil von »Stoffe: Ostdeutsche Kindheiten«.

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