LCB

Irritation

Antje Rávik Strubel

© Zaia Alexander

© Zaia Alexander

Ich wuchs in einer Kleinstadt auf, die groß war darin, Lkw’s zu bauen und in ferne Länder zu verschiffen. Ich wuchs in einem kleinen Land auf, das sich groß machte mit Formulierungen zum Weltfrieden und zur Brüderlichkeit und kleinlich war, wenn die Menschen den Lkw’s in die ferne Welt hinaus folgen wollten. Stattdessen: Kiesgruben. Mädchen auf dem Sozius von Mopeds. Bohrmilch an den Produktionsbändern der Automobilwerke.
Es kann sein, dass ich damals schon den Drang verspürte, mich davon zu machen, und mit dem Schreiben begann. Und als ich bemerkte, daß auch woanders die Welt überwiegend aus Kiesgruben besteht und aus Frauen, die auf dem Sozius von Mopeds sitzen, aus Brüderhorden und Stillstand am laufenden Band, wurde dieser Drang nur stärker.
Sich davon machen. Mein Fluchtpunkt wurde die Irritation. Häuser, aus denen man beim Hineingehen hinausgeht. Kontinente aus Wasser. Sätze, die ihren Anfang am Ende haben. Taghelle nächtliche Landschaften. Menschen, die als Frauen Männer sind. Rosenlippige Jungs.
Die Irritation arbeitet mit Hochdruck am Netz aus Sozialisation, aus Erlerntem und Erfahrenem. Alles gerät in Bewegung. Das Netz reißt, und die gesammelte Logik gelebten Lebens wird fortgesogen. Übrig bleibt eine an den Fasern zerrende Orientierungslosigkeit. Das blanke Nichts. Dann kopfloses Strampeln, um nicht mitgerissen zu werden in den Abgrund des – was? Entsetzens? Entsetzen vor dem Ungewohnten, Unbekannten, Unbegriffenen? Sich dort aufhalten. Sich dort aushalten. Und dann: Anders sehen und das so Gesehene in Sätze bringen, die Fluchtwege sein können aus den Kiesgruben, den Kriegsgruben dieser Welt.

 


 

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Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Stoffe: Blaue Frau«.

Materialsammlung »Stoffe«

© Zaia Alexander

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