Gold
Alexandru Bulucz

Maiskiefer, © Norman Hildebrandt, www.normanhildebrandt.com
Der biografische Anlass des Gedichts „Kreischqueller Heuweg“ ist einfach: Mein Kindheits-Ich bekommt mit, wie Majka, meine Urgroßmutter, die Fütterung des Geflügels vorbereitet und vollzieht. Wie sie Maiskolben aus der Tschardake (oder Maisdarre) holt, in der die Maisernte zum Trocknen belassen ist. Wie sie mit einem Handrebler über einem Blecheimer die harten gelben Maiskörner von den Maiskolben abrebelt (oder abriebelt). Wie sie schließlich mit der Rechten nach den Maiskörnern aus dem Eimer, der an einem Henkel in der linken Armbeuge hängt, greift und sie an das Geflügel verfüttert.
Die Feststellung, dass der deutsche Begriff „Handrebler“ spärlicher belegt ist als sein rumänisches Äquivalent „curățătorul manual de porumb“, und der Umstand, dass curățătorul manual de porumb in den ruralen Gegenden Rumäniens bis heute im Gebrauch ist, sind Indizien dafür, dass ärmere Erdteile stärker auf Mais angewiesen sind als der Rest und aufgrund des schleppenden technischen Fortschritts auf die Erfindung und Benutzung solcher Werkzeuge länger angewiesen bleiben.
Der Schere zwischen Arm und Reich nimmt sich im Gedicht die Verwandlung der gelben Maiskörner in „goldene Zähne“ an, die den „Zahnlosen“ (den zahnlosen Hahnen und Hennen) hingestreut werden, sozusagen als dritte Zähne, die von ihren Kaumägen verdaut werden. Es ist eine späte Wiedergutmachung der Natur an den von der Evolution Entzahnten. Der tote Maiskolben vererbt ihnen seine Goldzähne. Er lässt sich für sie entkörnen, das heißt, entzahnen und offenbart sein poetisches Wesen, ganz Kiefer zu sein.
Was macht das Gedicht mit dem einfachen biografischen Anlass? Das lyrische Ich beobachtet mein Kindheits-Ich, wie es Majka beobachtet, wie sie die Fütterung des Geflügels vorbereitet und vollzieht. Es beobachtet dessen dunklen Begriff der Situation, sozusagen: dessen Nathan’sche Verwunderung: „Hm! hm! – wunderlich! – Wie ist/ Mir denn? – Was will der Sultan? was? – Ich bin/ Auf Geld gefasst; und er will – Wahrheit. Wahrheit!“ (3. Akt, 6. Auftritt). Das heißt, im naiven, sich nichts dabei denkenden Sehen meines Kindheits-Ich ist im Ansatz enthalten, was das lyrische Ich später sehen wird in seiner Annäherung an einen deutlichen Begriff des einfachen biografischen Anlasses: etwa die Armut.
Das Gedicht ist Puffmais. Es ist, als ob das Nachdenken über ein hartes gelbes Maiskorn eine Vergrößerung seines Volumens und sein Aufplatzen zur Folge hätte: Aus dem harten gelben Maiskorn wird ein Goldzahn, und der Goldzahn verweist mich auf die Bodenschätze des Siebenbürgischen Erzgebirges, in dessen nördlicher Region Kreischquell (rumänisch Crișcior) gelegen ist. Er verweist mich auf die westkarpatische Geschichte des Goldabbaus und darauf, dass mein Stiefurgroßvater ein Bergmann gewesen ist. Durch diese Verweise könnte sich das Gedicht „Kreischqueller Heuweg“ zu einem Zyklus auswachsen. Unterwegs zum Zyklus würden die Verweise ihr Volumen vergrößern und in der ein oder anderen Weise aufplatzen. Das Gedicht ist Puffmais.
Kreischqueller Heuweg1
Kutscher, der Bursche mit Stoppeln im Bart, war ein Rom,
dessen Zweispänner, Peter u. Werner, verschnaufte im Haben,
u. ferner lief ich tief im Soll übern holprigen Heuweg
im Traum zum Gehöft, als die Hügel um einen wie Arme
gen Himmel sich reckten, um Beistand von Gott zu erbitten.
Diesseitig diesig das Glück! Paradies eines Hörens
des frühesten Gackerns u. Kikerikis, auf dass Majka
von Kolben in Blecheimer festeste Maiskörner reble
u. schwungvoll von links mit der Rechten dann streue
die Goldzähne Schnäbeln von Zahnlosen hin.
Flugs, ob des heftigen Ausbruchs von Schweiß, zu den Fischen
im Bach u. die Schräge hinan auf den Scheitel zum Leckstein,
vergessen, was Wetzsteine rufen aus Wassern in Kumpfen
an Hüften, die stählern sich zirkeln durchs Frühsommergras:
„Scharf ward durch einen die Axt aus dem eichenen Hackklotz,
dem blutende Wunden sie schlug.“ Es gab Kikeriki
für die tüchtigen Mähder, den fahrenden Rom an dem Abend
u. reichlich Polenta, die glänzte im Teller ganz hold.
im Dezember 2020 und Januar 2021
1 Crișcior (ungarisch Kristyór, deutsch Kreischquell) ist eine Gemeinde im Kreis Hunedoara in Siebenbürgen, Rumänien.
Das Gedicht Kreischqueller Heuweg ist erstmals erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2021), Jg. 16, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg.
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Dieser »Stoff« ist Teil von Stoffe #5.

Maiskiefer, © Norman Hildebrandt, www.normanhildebrandt.com

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