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Geschmäcker

Jovana Reisinger

Geschmäcker © Jovana Reisinger

Geschmäcker © Jovana Reisinger

Ich habe die Stellenausschreibung gar nicht mitbekommen. Es wurde mir von ihr berichtet, so dass ich sie erst suchen musste, um sie mit eigenen Augen zu sehen. Seither kann ich sie nicht vergessen. In den darauffolgenden Monaten, tatsächlich auch gestern Nacht, erzählte ich allen möglichen Personen von ihr. Mit so einer irrsinnig schönen Aufregung in der Stimme, die, die mich sonst beherrscht, wenn ich von erreichbareren Zielen fantasiere, wie Mode, Beautyprodukten oder Freizeitaktivitäten. Bedürfnisbefriedigung durch Konsum, ob durch Dinge oder Momente. Aber hier geht es um etwas anderes. Es geht um die Verschränkung zweier (in meinem Leben) sinnstiftender Tätigkeiten (Schreiben und Essen) und die Frage, warum nicht auch durch diese Verschmelzung benötigtes Kapital verdienen? Eben, alles ergibt Sinn. Nur mein Wohnort nicht.

Also, zurück zur Stelle, welche natürlich schon längst vergeben ist und mit deren Neubesetzung ich bisher zufrieden bin. Immer dann, wenn sie mir wieder einfällt, schwelgen wir ein paar Minuten, also, meine Freund*innen, Gesprächspartner*innen und vor allem ich – und stellen uns diese vermeintlich ideale Realität vor. In der ich zwar irrsinnig weit weg wäre (räumlich), aber berufsbedingt immer satt (und das mit konkreten Schreibaufträgen und Inhalten). Als gäbe es die Möglichkeit. Als wäre eigentlich ich die Richtige. Die gesuchte one in a million (das betrifft jetzt eher mein Ego, denn unfassbar viele Schreibende, so bin ich mir sicher, passen auf diese Position, aber das spielt in diesem Text keine Rolle, es ist schließlich meine Fantasy).

Leider, wie so oft im Leben, stimmten die Umstände (oder das Timing) nicht – um nicht zu sagen die Anforderungen, um nicht zu sagen, es sei meine eigene Schuld.
Nur 2/3 richtig. Blöd. So schnell kann’s gehen. Aus der Traum. Schade eigentlich.

Präziser formuliert, waren es drei simple Fragen:
1. Du kannst gut schreiben? (Ja, passt.)
2. Du isst gerne? (Ja!)
3. Du lebst in New York City? (Nein.)

Besagtes Stellenangebot war, um es endlich für alle aufzulösen, die ihn nicht kennen oder mit mir in den letzten Wochen Zeit verbrachten, der Newsletter „The Year I ate New York“ vom New York Magazine. Diese wöchentliche Hommage an die internationale Küche, bei dem der oder die diner-at-large Essen geht und darüber schreibt, erreicht mich häufig in unmöglichen Momenten – und muntert mich umgehend auf. Die Autor*innen können das. Und zwar richtig gut. Keine schnöden Restaurantkritiken, keine uninspirierten Listen von Gerichten und Zusatzstoffen. Es sind oftmals hinreißende Texte über Einrichtung, Geschmack und Menschen, die Essen zubereiten und jene, die es konsumieren. Über Wartesituationen, Personal, Plaudereien mit dem Nebentisch. Über Snacks, die täglich verzehrt werden müssen, weil sie gerade das Beste sind.

Tammie Teclemariam, diner-at-large 2022, schafft es in wenigen Sätzen, eine komplette Restaurant- oder Bistrostimmung einzufangen und, das wichtigste Element, die Speisen. Selten eine so erregende Beschreibung von Gurkensalat gelesen, wenn nicht nie.
E. Alex Jung, diner-at-large 2023, beschreibt zusätzlich jene, die beim Essen dabei sind, und lässt einen so auf sehr humorvolle und liebevolle Weise teilhaben, was folgerichtig ist, war er doch bisher (und bleibt es auch) vor allem entertainment writer. Seine Änderung: der Newsletter kommt alle zwei Wochen.

Oftmals finde ich literarische Beschreibungen von Essen unbefriedigend. Es fehlt die Sinnlichkeit. Die ausführliche und detaillierte Benennung der Konsistenz, der Textur, der sich verändernden Geschmäcker und deren Dramaturgie. Ähnlich wie Mode hat Essen zwar einen hohen Stellenwert einerseits (Genuss, Prestige, Qualität, Exzess) und wird andererseits als irrelevant und lästige Notwendigkeit abgetan. Diese Gleichzeitigkeit ist, nicht zuletzt, auch durch Gemeinheiten, Diskriminierungen und hochgradig verschiedene Lebensrealitäten verursacht (Klassismus). Wer kann sich fancy leisten? Geschmack muss trainiert werden.

Doch zurück zum Essen. Sich hinsetzen und wirklich versuchen, Worte zu finden, die nicht schon dermaßen (Obacht) ausgelutscht sind. Meine liebste Konsistenz ist übrigens schlonzig, das heißt schleimig. Meine favorisierten Geschmäcker sind nussig-erdig. Das kann ich nun gut behaupten. Gerade eben, wie ich in meinem Zürcher Hotelzimmer liege und noch immer die Maroni auf der Zunge trage, von der übergroßen Portion Vermicelles, die ich so dringend verspeisen musste (und das bei Sprüngli in der Bahnhofstraße), obwohl ich schon viel zu satt von meinem mit Bergkäse überbackenen Rösti mit Spiegelei war (Café Zähringer).

Einmal startete ich so einen Versuch, da gab ich mir Mühe:
Auf Nachfrage gegen 9:30 Uhr morgens schrieb ich am 23.12.2022 folgendes, bezüglich der am Vorabend verspeisten Entenherzen, meiner großen Fleischausnahme: Also die kommen mit einer Pflaumensauce und die Konsistenz ist anfänglich unspektakulär, doch dann merkt man, dass es ein Muskel ist – das heißt es ist fest, aber gleichzeitig soft. Gut zu kauen. Der Geschmack ist wesentlich interessanter: zu Beginn kommt die Sauce, dann der Geschmack von Fleisch, also von Eisen, von Tier (wie bei Wild) und am Ende, plötzlich ganz erdig. Es zieht einen geschmacklich ganz arg runter. Gerade beim ersten Herz ist das ganz toll. Von der Süße zum Erdigen, ohne torfig zu werden.

Mein Chatpartner schrieb daraufhin, dass ich in meinem neuen Roman dringend über Essen schreiben solle. Was bleibt mir nun anderes übrig?

Man sollte ohnehin aufpassen, welche Behauptungen man (in Bezug auf Essen, Mode und romantische Partner) aufstellt und in welche Fantasien man sich reinsteigert.
Geschmäcker verändern sich bekanntlich.
Aber mir schmeckt es gerade ganz gut.


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Enjoy dich im Casino, Schatz!«, mit Jovana Reisinger, Sara Geisler, Roshanak Khodabakhsh, Benjamin Radjaipour und Diana Weis am 02. Februar 2023.

Materialsammlung »Stoffe«

Geschmäcker © Jovana Reisinger

Geschmäcker © Jovana Reisinger

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