LCB

Geister

Yael Inokai

Geister © Yael Inokai

Geister © Yael Inokai

Als mein Schreiben und ich noch sehr jung waren, verbrachte ich einen Sommer als Stipendiatin im LCB. Ich würde danach nach Berlin ziehen, studieren, ein neues Leben beginnen. Dabei war schon der Sommer am LCB so etwas wie ein neues Leben; ich, Autorin, Wahnsinn.
Ich kam, als es kalt war, noch zu Ostern hatten sie bei der Eröffnung des Strandbads Schnee geschippt. Die Stipendiat:innen verteilten Wollsocken untereinander. Wenn ich an den Wochenenden in der Stadt unterwegs war, blieb ich oft an Bahnhöfen stecken, eine Stunde, zwei, einmal eine halbe Nacht. Ich dachte an meine Heimatstadt, in der sich alles zu Fuß ablaufen ließ und die ich unterdessen viel zu gut kannte und ohnehin nie gemocht hatte und also auch nicht zurückkonnte und mich wohl umgewöhnen musste.
Als der Frühling endgültig in den Sommer kippte, waren wir fünf Autorinnen und ein Autor. Wir ließen uns eine Leiter in den Wannsee stellen, schwammen morgens, trockneten uns in der Rotunde. Abends tranken wir Wein und tanzten auf der Veranda. Der Autor war selten dabei. Immerzu leuchtete das Licht in seinem Fenster. Wenn er uns tagsüber begegnete, lächelte er uns an, als seien wir interessante Tiere. „Ich habe zu tun“, sagte er dann hin und wieder ungefragt und ich beneidete ihn. Ich wollte auch eine Autorin sein, die zu tun hatte, Emails beantworten, Telefonate und Aufträge erledigen musste. Eine Sehnsucht wie die eines Jungen, der seinem Vater beim täglichen Rasieren zuschaut und sich nicht vorstellen kann, dem je einmal überdrüssig zu werden.
Uns Autorinnen trennten jeweils gute zehn Jahre. Wir teilten unsere unterschiedlichen Blicke auf die Welt. Als junge Autorin, als mittelalte Autorin, als Autorin mit Kindern, als neugierige Autorin, als frustrierte Autorin, als Autorin mit tausend Ideen, als hilflose Autorin. Manchmal riefen wir dasselbe aus: „Ich kann nicht glauben, dass das mein Leben ist!“ und meinten damit sehr unterschiedliche Dinge.
L. sagte einmal, sie glaube nicht, dass wir alleine da auf der Veranda tanzten. Sie glaube, dass alle Autorinnen, die einmal in diesem Haus gelebt hatten, bei uns seien, in unserem Sommer der Frauen. Dass man auch als Autorin nie alleine sei oder schreibe, sondern immer begleitet von den Geistern derer, die vor uns da waren.
Daran denke ich oft. An das Schreiben als ein Weiterspinnen, das jetzt, weil ich jetzt lebe, in meinen Händen liegt, davor in anderen Händen lag, nach mir in andere Hände wandert. Und dass ich auch, eines Tages, wenn es mich nicht mehr gibt, irgendwie bei den Autorinnen sein werde, die dann auf der Veranda des LCBs tanzen.



Woraus besteht die Gegenwartsliteratur?
Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »WOW: Das Neujahrs-Casino mit Inokai & Sielmann«, mit Sandra Hetzl, Sebastian Köthe, Biba Nass, Raphaëlle Red, Slata Roschal, Caca Savic, Felix Schiller, Miriam Zeh und den Kuratorinnen Yael Inokai und Lara Sielmann am 17. Januar 2023.

Materialsammlung »Stoffe«

Geister © Yael Inokai

Geister © Yael Inokai

360