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Geist

Alexander Graeff

Stoffebild_Graeff

© privat

Der Text hat eine menschliche Form,
er ist eine Figur, ein Anagramm des Körpers?
Ja, aber unseres erotischen Körpers.
– Roland Barthes: »Die Lust am Text« (1973)

 

Literaturwissenschaft hat mich nie sonderlich gereizt. Soziologie und Subjektphilosophie sind dagegen für mein Denken und Schreiben bedeutsamer, denn in diesen Disziplinen geht es um Menschen, um Körper in Räumen und um Räume des Bewusstseins. Es geht um Stimmen, die schweigen oder erhoben werden. Die Literatur war mir selbst ein Weg, aus dem Schweigen herauszukommen, meine Stimme entwickeln zu können und schließlich den Mut zu finden, sie zu erheben.

Wenn man klassen- und herkunftsbedingt diese sprachlichen und literarischen Entwicklungen erst spät durchläuft und die notwendigen Kompetenzen lernt – hierzu zähle ich auch die Kodes des bildungsbürgerlich grundierten Literaturbetriebs –, ist an den ›klassischen‹ Ressourcen nicht vorbeizukommen. Mir jedoch fehlte die Souveränität, das idealistische Geschwafel über geistige Ideen und innere Notwendigkeiten einfach so wegzuwischen und eigene Wege zu gehen. Ohne ausreichend kulturelles Kapital gibt es im Grunde keine eigenen Wege. So war ich abhängig von abgedroschenen Wegweisern, die ich auch erst spät zu kritisieren lernte.

Heute treiben mich andere Dinge um als noch vor 15 Jahren – damals, als ich plötzlich mitspielen durfte in diesem Literaturbetrieb. Längst benötige ich andere Stimuli, habe andere Themen. Selbstverständlich spielen auch heute noch ›geistige‹ Ressourcen wie Erinnerung, kritisches Denken und ja, auch das Philosophieren eine Rolle. Ich koppele es aber – entgegen der abendländischen Tradition – nicht mehr von den materiellen Dingen, den Stoffen, ab. Ohne den Körper gibt es nämlich keine Stimme, keine Texte. Ohne Self-Care kein Schreiben. Ich idealisiere das Geistige nicht mehr, weil ich das Gehirn sehe, das es erst ermöglicht. Und andersherum naturalisiere ich ›als Geist‹ den Körper nicht mehr – auch so ein abendländisches Skript –, weil ohne das Bewusstsein, ohne die Sprache, kein Körper beschreib- und erfahrbar wäre.

Was mich seit einem halben Jahr enorm antreibt für mein Schreiben, ist die Tatsache, dass ich dreimal die Woche in ein Fitnessstudio gehe. Anfangs nur zweimal die Woche, aber der körperliche und mentale Effekt von Dreimal-die-Woche ist bedeutend größer als Zweimal-die-Woche. Früher habe ich auch Sport getrieben, aber nie regelmäßig. Selten hatte ich weniger mentale und körperliche Probleme als zur Zeit. Das Schreiben über den Körper funktioniert für mich nicht mehr ohne Aktivierung des Körpers, der schreibt. Unbegreiflich ist mir heute, wie man über etwas schreiben könnte, das sich der materiellen Erfahrung entzieht. Eben diese Erfahrung mache ich dreimal die Woche beim Sport, der dafür sorgt, dass ich Lust am eigenen Körper und damit Lust am eigenen Text bekommen habe.

 


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Stoffe: Spekulative Poesie«, mit Daniel Falb, Alexander Graeff, Tim Holland und Rike Scheffler am 28. September 2022.

Materialsammlung »Stoffe«

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