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Gehörtes

Katja Lange-Müller

14_Lange-Müller_Gehörtes © Pixabay

Was habe ich nicht schon alles gehört im Laufe meines Lebens?! Legenden, Geschichten, manchmal nur Fragmente von Geschichten, irgendwo aufgeschnappt – in diversen Runden, Zügen, Kneipen – bleiben hängen, beeinflussen mich und damit auch mein Schreiben. Ich eigne mir diese Geschichten an und benutze sie, so schäbig das Wort benutzen in dem Zusammenhang klingen mag, für meine Texte, die kürzeren und die längeren; natürlich übernehme ich keine davon eins zu eins, sie mutieren am Laptop und auf dem Papier zu etwas Neuem, das dem ursprünglich Gehörten dann meistens kaum noch ähnelt, sie passen sich ein in meinen Erzählstoff, und wenn ich die Erzählung oder den Roman fertig geschrieben habe, ergeben sie, zusammen mit Selbsterfahrenem, Fiktionalem, auch Angelesenem, ein dichtes Gewebe, ein Amalgam. Nicht einmal mehr ich wäre nachträglich fähig, das ganze Gebilde wieder in seine Bestandteile zu zerlegen, zu sagen, diese Passage rührt von Gehörtem her, die folgende von Erinnertem und jene ist reine Fiktion. Diese „fremden“ Geschichten, auf die niemand ein Copyright erheben kann, weil diejenigen, die zu mir sprachen oder die ich heimlich belauschte, ihre Version in meiner nur schwerlich wiedererkennen würden, sammeln sich an über die Zeit, ich behalte sie im Kopf – bis ich sie brauche, dann erst mutieren sie. Von sich aus? Oder durch mich? Ich weiß es nicht.

Für den Roman, den ich gerade schreibe, war eine solche Geschichte die Initialzündung, der Grund, ihn überhaupt zu beginnen. Ein Freund erzählte mir von seinem geistig beeinträchtigten Neffen, einem kräftigen jungen Mann namens Sven, der im Haus seiner Großmutter aufgewachsen war. Doch eines Tages verschwand er spurlos, denn ein Genickbruch hatte das Leben seiner Großmutter beendet. Die Hinterbliebenen argwöhnten, dass der junge Mann, den sie nur den Bären mit Spatzenhirn nannten, die Schuld daran trug. Allerdings ließ sich nicht klären, ob Sven seine Oma, eine sittenstrenge, dominante, launische Person, geschubst habe oder ob sie, die ohnehin nicht mehr gut zu Fuß gewesen war, einfach bloß gestolpert und unglücklich gefallen sei.

Sicher bin ich nicht die einzige Schreibende, der es so geht, die Legenden und Geschichten aufsaugt wie ein Scheuerlappen das übergelaufene Badewasser. Auch unsere Protagonisten sind solche „bunten Kreationen“; sie bestehen aus Menschen, die uns (samt ihren Geschichten) begegnet sind, aus unserer eher fiktionalen Vorstellung von Helden oder Antihelden (gleich welchen Geschlechts) und wesentlich aus uns selbst. Wenn wir schreiben, schlagen wir einen von zwei möglichen Wegen ein: Wir verteilen das, was wir fühlen, denken, wünschen, lieben, hassen auf diverse Figuren, die dennoch alle unsere eigenen, durchaus widersprüchlichen Charakterzüge tragen; ein Chor, wenngleich in unterschiedlichen Stimmlagen, singt unser Lied. Der andere Weg: Wir kannten und kennen reale Menschen, die uns so stark geprägt haben, dass wir sie zu Gestalten unserer Literatur machen (müssen) und verbinden sie mit solchen, die wir erfinden, uns also vorstellen, und natürlich prägt unsere jeweilige Persönlichkeit auch in dem Fall das entstandene oder entstehende Werk, zumindest stilistisch. Wie sonst sollte es gehen? Dieser zweite Weg ist immer wieder meiner – und den flankieren vor allem jene Geschichten, die ich gehört, in die eigenen verwickelt und so zu meinen gemacht habe. Während der schier endlos langen Schreibphasen, geistern meine (im Werden begriffenen) „Leute“ um mich herum, zupfen nachts an meiner Bettdecke, flüstern, reden, schreien, streiten sich untereinander und mit mir. Wenn ich das Manuskript abgegeben habe und sogar Jahre später, höre ich sie immer noch, aber sie gehören nicht mehr mir, sondern nun ganz und gar dem Text, den ja doch niemand anderes geschrieben hat als ich allein.

 


 

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