Flugzeuge

Als ich ein Kind war, wohnte meine Oma in der Nähe des Flughafens. Der Flughafen lag im Norden von Quito. Piloten mussten einen Zusatzschein machen, um dort landen zu dürfen. Oft merkten sie erst wenige Sekunden vor dem Aufsetzen, dass es sich nicht ausgehen würde, dass sie zu viel Respektabstand vor den Bergen und den Hochhäusern gehalten hatten, um die Landebahn früh genug zu erreichen, zogen hoch und drehten noch eine Runde. Wir gingen in den Parque La Carolina und spielten in einer dort abgestellten Propellermaschine, während die cremeweißen Bäuche von KLM den Park der Länge nach durchschnitten. 

Der neue Flughafen liegt in einem Tal außerhalb von Quito, und auch meine Oma wohnt jetzt außerhalb von Quito, zwei Dörfer vom neuen Flughafen entfernt. Von ihrem Garten sieht sie die Flugzeuge starten und landen, untertags, wenn sie kaum auffallen, und in der Nacht, wenn sich ihre Lichter gegen den dunklen Berg abheben. Avianca, Latam und American sind Freunde, KLM und Iberia sind wir, die Kinder, Enkel und Urenkel aus Europa. Es ist trotzdem falsch zu sagen, dass meine Oma den Flugzeugen zusieht, während sie auf uns wartet, während sie uns vermisst, denn meine Oma sieht den Flugzeugen nicht zu. Ich bin es, der hier sitze und ihnen zusieht. Der dort im Garten sitzt und schreibt, dass ich hier im Garten sitze und mit meinem Blick den Flugzeugen folge, der später woanders schreibt: Ich sitze im Garten uns sehe die Flugzeuge landen. Meine Oma ist drinnen und sieht fern oder strickt oder kocht.

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von der »Buchpremiere: ‚Echtzeitalter’«, mit Tonio Schachinger in Lesung und Gespräch mit Wiebke Porombka am 13. März 2023.

Materialsammlung »Stoffe«