LCB

Es sollte umgekehrt sein

Slata Roschal

Belladonna (Cover) © Slata Roschal

Es sollte umgekehrt sein, sagte Emil, als wir aus dem Kino gingen, ein bescheuerter Trickfilm über ägyptische Mumien, die im heutigen London landen, Eigentlich müsste es umgekehrt sein, sagte er, Wir müssten zu ihnen hinunter und nicht sie zu uns hinauf. Ich dachte damals, dass es Emil um den Effekt ging, um den Spannungsbogen, der im Fall unseres eigenen Ablebens stärker gewesen wäre als der Besuch irgendwelcher Toten. Jetzt denke ich, dass es viel mehr gewesen ist, was da mitschwank, was ich nach längerem Überlegen zu verstehen beginne, wir müssten nämlich hinunter, weil wir es sowieso, früher oder später, und diese Richtung viel logischer gewesen wäre, viel aussagekräftiger, weil jeder Zuschauer, heimlich, unangenehm überrascht, verärgert oder verletzt, damit etwas anzufangen wüsste.
Ich glaube manchmal, eine Diagnose würde mir guttun, mit baldigem, ärztlich beglaubigtem Datum, Gebärmutterkrebs, Schlaganfall, Magengeschwür, und ich tue mich schwer damit, es zu sagen, weil ich natürlich auf keinen Fall will, dass es passiert, dabei mich doch, irgendwo, die Phantasie nicht loslässt, dass ich dann endlich anfangen könnte, ohne Angst zu leben, also auf kurze Sicht zwar, aber immerhin. Und ich habe oft Angst, fast immer sogar, fast vor allem, vor allem davor, Auto zu fahren, weil ich ein Kind überfahren könnte, so unkonzentriert wie ich bin, in jedem Tatort überfährt jemand ein Kind aus reinem Versehen, oder etwas Falsches zu essen und dabei zu erblinden, wer würde mich blind schon zu Lesungen einladen, mit zugebundenem Gesicht, manchmal auch einfach aus dem Haus zu gehen und mich von fremden Leuten ansehen zu lassen oder wieder zurück. Und wenn ich wüsste, ich habe nichts zu verlieren, jetzt, sofort, würde sich da nicht alles verändern, eine Lockerheit, Sättigung breit tun, wobei ich das auch ohne eine Diagnose wissen könnte, wissen tue, also, die Diagnose haben wir alle ja. Und das kommt dabei heraus, so ein billiger Trickfilm, ich könnte mir die Frage nach der Angemessenheit stellen, ja ist es denn angemessen, was ich wieder denke, und mein Kind offenbar auch, wie färbt es sich ab, dieses Dunkle und Bedrückte, Glasmacher hätte ich werden sollen, lernen, mit Gebrechlichkeit umzugehen, oder Totengräber vielleicht, und die vielen unnützen Dinge zuhause entsorgen, Kartons, die ungeöffnet von Wohnung zu Wohnung wandern, in München braucht keiner getragene Kleidung, die Zeit ist reif für Veränderungen, nur welcher Art, wie soll ich darauf kommen, wie viel Zeit habe ich dafür, wo gerade die Zeit knapp wird, von Sekunde zu Sekunde, immer mehr, also weniger, wie oft schaue ich wieder aufs Handy, wie viele Trickfilme muss ich mir anschauen, wie lange überlegen und verarbeiten, um wieder zu dem Punkt zu kommen, bei dem alles angefangen hat. Bei den Freimaurern wurden jedem Neuankömmling ein Paar weißer Handschuhe überreicht, für eine Frau, der gegenüber er tiefste Achtung hege, warum tragen Männer so selten Kajal, Lasurstein, gemahlener Malachit, würde Emil sich schwarzen Puder kaufen später, Hier darf man noch Mann sein, ein Reiseanbieter über Kitzbüheler Alpen. Die Zeiten sind heute anders als früher, keine Ahnung, was früher gewesen, das interessiert mich nicht, ich pfeife drauf, die können mich mal, die Mumien und die Alpen.



Woraus besteht die Gegenwartsliteratur?
Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »WOW: Das Neujahrs-Casino mit Inokai & Sielmann«, mit Sandra Hetzl, Sebastian Köthe, Biba Nass, Raphaëlle Red, Slata Roschal, Caca Savic, Felix Schiller, Miriam Zeh und den Kuratorinnen Yael Inokai und Lara Sielmann am 17. Januar 2023.

Materialsammlung »Stoffe«

Belladonna (Cover) © Slata Roschal

360