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Die Hose meines Vaters

Magda Albrecht

34_Albrecht_Die Hose meines Vaters © privat

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Nehme ich einen Stift in die Hand, baue ich an meiner Welt. So viel Platz für Ängste, so viel Angst vor Enge. Ich kann alles sein, alles denken, alles fühlen, alles schreiben, schaffe kaum zwei Zeilen in drei Wochen.

Baue ich an meiner Welt, suche ich nach Schutz. Ich suche Weite, vergrabene Träume und Erinnerungen. Ich sehne mich nach Trost und Wärme. Eine Leiter, an der ich mich festhalten und anlehnen kann, die mich hinaufsteigen und ein bisschen von den Wolken naschen lässt. Keine Schrammen, keine Narben.

Suche ich nach Schutz, denke ich an Kleidung. Ein Leben lang die Hülle für einen un_geliebten Körper, den alle begutachten, kommentieren, ändern, formen wollen. Ein Körper, den ich schmücken und ausstellen und hassen oder lieben kann, der mir nie allein gehören wird. Ein Körper, ein Politikum.

Denke ich an Kleidung, imaginiere ich Cord. Ein robuster, fast unverwüstlich grober Stoff, Rippe an Rippe, ein bisschen durchgescheuert, aber stabil, eine echte Arbeiterhose. Für eine, die sich die Hände schmutzig machen oder auf den Knien robben muss. Für einen, der Häuser baut oder einreißt. Für alle, die anpacken und sich die Butter nicht vom Brot nehmen lassen.

Imaginiere ich Cord, erscheint mir mein Vater. Er baute keine Häuser, das tat sein Vater. Von einem fiel er runter, tot. Mein Vater robbte nicht auf Knien, höchstens auf der Bühne, als Schauspieler, in seinem Element, bis er das nicht mehr tun konnte, weil sein Körper ihm Grenzen aufzeigte. Noch so ein Körper, so viel mehr Grenzen. Ein sterbender Mann, dessen Cordhose mich bis heute in meinen Träumen verfolgt. Eine große grobe Hose in einer knisternden braunen Tüte, die nach Krankenhaus riecht, aber nicht mehr nach ihm. Steril, neutral, alles, nur nicht mein Vater.

Erscheint mir mein Vater, möchte ich schreiben. Eine Geschichte erzählen, die nicht meine ist, aber meine prägte. Die 1932 begann und 2001 endete, die deutsch und jüdisch und sozialistisch und einsam war, voller Ideale, Grenzen und unerfüllter Sehnsüchte und heute Stoff für romantische Verklärung bietet.

Möchte ich schreiben, hege ich Zweifel. Wer bin ich, dass ich schreiben darf. Wer bin ich, dass ich träumen darf. Wer bin ich, dass ich trauern und weinen und denken und lieben darf, wen und wie viele ich will, und sicher bin, so sicher, dass ich das hier schreiben kann.

Hege ich Zweifel, nehme ich einen Stift in die Hand.

 


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »DYKE DOGS Literatur Salon«, kuratiert von Eva Tepest und Lynn Takeo Musiol, mit Duygu Ağal, Magda Albrecht, Kaśka Bryla, Samantha Bohatsch, Karen-Susan Fessel, Franziska Gänsler, Anna Hetzer, Selma Matter, Ronya Othmann, Marie Lucienne Verse, Hengameh Yaghoobifarah und Derya Yıldırım, am 15. September 2022.

Materialsammlung »Stoffe«

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