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Barcelona

Hannes Köhler

22_Köhler_Barcelona © privat

Ich habe mir also eine Stadt erschrieben, neu, in der ich seit über einem Jahrzehnt jedes Jahr viele Wochen verbrachte, über die ich so viel zu wissen glaubte. Bücher über den Bürgerkrieg, Orwell natürlich, aber auch Rodoreda, später Énard. Dazu Beobachtungen aus dem Alltag: Mein zusammengeklaubtes, geglaubtes Fundament.

Und in den Gesprächen mit Zeitzeugen der späten Diktatur und im Stadtarchiv dann: Ein neues Kennenlernen. Und doch eine alte Vertraute. Neue Topografien einer grauen Stadt Mitte der 70er, feine Asche auf dem Modernise Catalan, Badehäuser an der Barceloneta, weil in Pools gebadet wurde, statt im dreckigen Mittelmeer, eine Stadt, nach innen gewandt, in der die alten Risse sich weiter verästelten, neue Bruchlinien hinzukamen. Diese Frage, wann das Gestein so weit erodiert ist, dass es auseinanderbricht.

Alte Anarchisten, die auf die Bürgerkinder der Assemblea de Catalunya schimpften, die alle Nationalist:innen seien und überhaupt nie etwas riskiert hätten. Und jene wiederum, die mir erzählten, die Anarchist:innen seien nie mehr als eine Handvoll gewesen, Verwirrte, Planlose, überhaupt. Beide irren sich, und beide werden doch immer recht haben in ihren Gedankenwelten, die bis heute wirken. Ich habe mir einen kleinen Trampelpfad ertreten, einen Fuß vor den anderen setzend zunächst, irgendwann freier, frecher. Ob jemals jemand von dort diesen Pfad wird begehen können? Wenn nicht, so ist er doch das: ein neuer Weg für mich, dieses zweite Zuhause ein wenig besser zu begreifen.

 


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Stoffe: Zurück zum Konjunktiv Barcelona«.

Materialsammlung »Stoffe«

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