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Auf den Punkt bringen

Lann Hornscheidt

12_Hornscheidt_Auf den Punkt bringen © privat

Ich habe einen Großteil meines Lebens damit zugebracht, zu versuchen zu verstehen, warum es Gewalt gibt – nicht als individuelles Hassphänomen, sondern als Struktur, die die Gesellschaft, in der ich geboren bin und in der ich immer noch lebe wie ein Gerüst durchzieht, fast würde ich stützt sagen, aber Gewalt stützt ja eigentlich nicht, oder? Und schon gar nicht diese Gesellschaft. Gewalt zerstört. Wie aber kann es dann eine so starke Struktur sein? Ich kann es nicht greifen. Was heißt das für diese Gesellschaft? Mir fehlen die Worte. Und ich finde auch keine im konventionellen Repertoire dieses Kollektivs. Gewalt in seiner strukturellen Dimension ist nicht leicht zu erklären, ist schwierig auf den Punkt zu bringen.  Und ist doch zugleich so eine omnipräsente, so wirkmächtige, alles durchziehende Struktur, dass es kein Außen gibt davon. Sie durchzieht das Leben wie Luft, ungreifbar, immer da. So feinstofflich, dass sie als Struktur schwierig ist zu sehen. Zu greifen und zu entsorgen. Gewalt beatmet unmerklich diejenigen, die privilegiert genug sind, sich ihr Leben einzurichten, ohne diese Gewalt spüren zu müssen, sie ist so normal die Nicht-Gewalt-Gewalt. Nur ein Schreien ist manchmal zu hören hier und da, nicht greifbar, fern. Das eigene Sein aber verläuft in einer Gleichförmigkeit und Voraussagbarkeit prototypischer Lebensläufe, die schon fast an Monotonie grenzen könnte, würde dies nicht so negativ und viel zu wenig individuell klingen, gut, sagen wir Sicherheit. Die Gewalt zieht und zerrt gleichzeitig an denjenigen, die durch Gewalt konstituiert sind. Zerreisst sie, nimmt ihnen die Luft. Für sie ein versuchtes sich Artikulieren vielleicht, nur Schreien für die, die das Hinhören nicht gelernt haben.

Auf den Punkt bringen, wie all das funktioniert, sich so gewaltig normal fühlen zu können für die einen, normale Gefühle und Wünsche zu haben, sich ganz normal worten zu können, sich wiederzufinden in Weltliteratur und Klassikern, die eigenen Lebensentwürfe schon nicht mal benennen zu müssen, so normal sind sie. Und mit dieser entmerkenden Unschuld gewaltvolle Ausschlüsse schaffen und wieder schaffen. Die so grundlegend Gewalt-konstituierten und Gewalt-konstitutierenden Normalitäten bestätigt und erneuert immer noch und immer wieder neu und schon immer und alt normalisierte kollektive Gewalten: Antisemitismus, immer größer und unverhohlener in dieser Gesellschaft; kollektive Amnesien der zwei größten europäisch initiierten Genozide, gepaart ganz aktuell mit kollektiver Selbstgerechtigkeit, über hundert Jahre nach dem Völkermord an den Herero und Nama, als Bundesregierung dies auch so zu benennen, es offiziell und staatstragend aus dem Entnennen zu nehmen – aber ohne juristische Folgen bitte, es gibt Verstofflichungen: Zahlungen, freiwillige, in Milliardenhöhe!, gestreckt über 30 Jahre – und wie zufällig ist dies genau der finanzielle Umfang des sogenannten Entwicklungshilfefonds über 30 Jahre, den Namibia sowieso von Deutschland bekommt. Staatsgewalt. So kurz, wie der Stoff greifbar schien, ist er wieder mäandernd in eine weit von historischen Kontinuitäten unbestimmte Zukunft entlassen. Es ändert sich also nichts, nur die Rhetorik, das Selbstschulterklopfen, das unverbindliche Verantwortung nach außen Zeigen. Deutschland ist Weltmeister des Redens und Bekennens, ohne dass etwas greifbar wird. Es fehlen die Worte. Mir.

Dabei wäre dies so ein Stoff – wenn es gut läuft. Etwas, was auf den Punkt zu bringen ist, ohne je einen Punkt zu machen.

In einer überregionalen Tageszeitung gibt es eine Kolumne mit Fragen von Kindern. Sie alle zeichnen sich durch ein Wundern, ein Nicht-Hinnehmen von etwas aus, was mit zunehmendem Alter zumeist als unhinterfragt akzeptiert wird, als unveränderbar postuliert, gleichgültig abgenickt wird oder schon nicht mal das. Solche Fragen haben alle gemeinsam, dass sie den kollektiven Konsens der stillschweigenden Normalität nicht mittragen, sondern als erklärungsnotwendig befragen. Wäre dies auch in Bezug auf die Struktur der Gewalt in dieser Gesellschaft so, könnte es also bedeuten ebendiese Gewalt  nicht mehr normal zu finden, sondern sie zu befragen. Sie zu zerlegen. Sie würde dann unnormal, seltsam, nicht hinnehmbar. Und für diejenigen, die diskriminiert werden, wäre dieses sich befremdlich wundernde Befragen darüber hinaus auch Stoff zum Sich-Wiederfinden, sich verstanden und gewortet Fühlen: wortend also die Gewalthaftigkeit, die in der häufig entnannten Normalität liegt, aus seiner vorgeblichen Neutralität zu entlassen.

Warum wird die Möglichkeit, hemmungs- und besinnungslos in Urlaubsgebiete fliegen zu können als Wiedererlangung von Bewegungsfreiheit gefeiert, die Möglichkeit Sprache diskriminierungskritisch kreativ und eigenverantwortlich verwenden zu können jedoch nicht als eine Bewegungsfreiheit des eigenen Sprachhandelns? Warum erscheint diese Analogie absurd?

Gewaltstrukturen auf den Punkt bringen und nicht hinnehmen.

Warum wird über die Notwendigkeit für mehr Frauenhäuser geredet und die Form der Gewalt: genderistische Gewalt und ihre Ursache, patriarchale Vorstellungswelten und Menschenbilder, nicht als dringend notwendig und grundlegend zu ändern mit derselben Vehemenz vertreten, sondern stattdessen darauf fokussiert die Effekte dieser Gewalt für die Betroffenen aufzufangen unter stillschweigend akzeptierender Hinnahme der gewaltvollen Struktur?

Zusammenhänge auf den Punkt bringen, die ansonsten weggedacht oder getrennt wahrgenommen werden.

Was hat mein Leben und mein Umgang mit Tieren, Pflanzen und Natur mit dem Ausbruch von Pandemien zu tun? Nichts. Lass uns lieber ein Steak essen gehen. Um zu feiern, dass wir die Pandemie durchgeimpft im Griff haben.

Hinter den politisch-alltäglichen Worthülsen Fragen auf den Punkt bringen, die die Normalitäten, die diesen Fragen zugrundeliegen, herausfordern.

Wer oder was ist gerettet, wenn Aktien- und Fluggesellschaften, Banken und Großunternehmen staatliche Unterstützung bekommen? 

Die Auswirkungen dieser Strukturen auf die konkreten Menschen betrachten und zeigen, wie tief strukturelle Gewalt sich in Geschichten über Generationen hinweg, in eigenes Handeln und eigenes Erleben einschreiben.

Und was genau haben alle diese Fragen mit mir zu tun? Mit meiner Nachbar*in, die es nie gegeben hat, da ihre Vorfahren deportiert und ermordet wurden? Und was genau machen diese Löcher im Gewebe meines Lebens und der Gesellschaft mit mir, hier und jetzt?

Vielstimmigkeit zulassen, Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten, Zweifel. Nach neuen Wörtern und Ausdrucksweisen suchen. Auch diejenigen, die vielleicht unangenehm sind, kratzen und sich reiben.

Etwas mit Worten materialisieren, vorstellbar, antizipierbar, empathierbar machen würde etwas auf den Punkt bringen, was eine Objektivität verpflichtete Wissenschaft und Neutralität hochhaltende Medien gar nicht worten können. Objektivität und Neutralität sind Chimären machtvoller Erzählungen, die so machen, als gäbe es keine sprechende Position dahinter. Keinen Punkt setzen, sondern Fragezeichen an Behauptungen anfügen, Kommas hinter Meinungen, Sätze abbrechen im Gewahrwerden ihrer Verhaftung in Gewaltstrukturen. Und neu und wieder anders anfangen. Keine kausalen Erklärungen, keine linearen Erfolgsgeschichten keine verallgemeinmenschlichenden Allmachten, keine allwissenden Erzählstimmen. Brechungen wagen. Normalität  als gewaltvolle Größe skandalisieren.

Eine solche Literatur sucht Ausdrucksweisen, die die entstofflichte Normalität von Gewalt nicht einfach hinnimmt, nicht darüber hinwegschreibt, nicht schweigt, nicht wegschaut, sondern die versucht sich sprachlich anzunähern. Zu erzählen. Zu worten. Komma. Auslassungszeichen. Noch mal neu anfangen, noch mal anders, immer wieder. Die versucht den Stoff sichtbar zu machen, aus dem die Luft gewebt ist, die das Leben von Individuen so unterschiedlich beatmet und sich in das kollektive Sein einschreibt. Die sich erzählend dem nähert, wie schwierig und schmerzlich es sein kann für Individuen, sich das zu erzählen oder daran zu scheitern. Literatur, die Worte, Ausdrücke und Geschichten wieder und neu aneignet, neu und anders füllt, neu belegt, anders verwendet. Literatur, die aus dem diskriminierenden systemhaften auch sprachlich vielschichtig aussteigt. Den Mut hat Worte mit der Zunge und den Tasten neu zu jonglieren. Den Mut, zum ersten Mal vielleicht unverständlich zu sein, nicht (länger) von einem Millionenpublikum gemocht zu werden (oder davon zu träumen) – und gerade dadurch Normalitäten auch eines Literaturbetriebs aufgibt. Sich nicht länger reinfügt in die Männlichkeit als Menschlichkeit zementierenden Sprachformen (und das wie selbstverständlich als normal, neutral und allgemeinverständlich zu vertreten), nicht die Genreerwartungen und konventionellen Themensetzungen einatmet, sondern den fast durchsichtigen Stoff immer wieder neu, zu greifen versucht. Das alles auf den Punkt bringen. Der nie ein Punkt sein wird, sondern immer neu zerreissen, fließen und das eigene Denken lesend und schreibend bewegen wird. Punkt.

 


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser »Stoff« ist Teil von »Stoffe: Auf den Punkt wandeln«.

Materialsammlung »Stoffe«

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