Antistoff
Raphaëlle Red
Manchmal, wenn ich in meinem Schreibzimmer sitze — ein kleiner Raum mit Teppich auf dem Boden und an den Wänden, fasrig, gelb — kommt es mir vor, als wäre der einzige literarische Stoff, den ich habe, Trauer.
Das liegt schon auch an mir. Wenn ich an May Ayim denke, denke ich an ihren Tod. Unabsichtlich, oder nebenbei, oder ganz konzentriert. Manchmal an den Moment, und manchmal eher an ihre Abwesenheit. Dann will ich Texte schreiben, die sich anhören wie Geisterbeschwörungen. Will ihr erzählen, wie ich einmal auf einem BSMG Konzert so laut mitsang und so fest tanzte dass ich erst beim Rausgehen merkte dass ich weinte, richtig mit Rotze und diesem leichten Beben; will dann sagen: mein ganzer Körper bebte vor lauter Erinnerung an die Momente, in denen der Gedanke eines solchen Konzerts, in Berlin, mit so vielen glücklichen Schwarzen Menschen, die nicht mal Afro-Amerikaner sein mussten, in denen also der Gedanke einer Zukunft, undenkbar waren. Dann will ich sagen, es ist unmöglich, dass wir aufhören zu Trauern. Wir sind nicht die einzigen, aber auch wir haben Generationen Geister, die wir kollektiv vermissen; Gräber, die zu früh gegraben wurden.
Und deshalb kommt mir manchmal, wenn ich in meinem Schreibzimmer sitze — eine Blase, die unter Wasser künstlich mit Sauerstoff versorgt wird, an den Wänden hängen Familienfotos — es kommt mir vor, als wäre Trauer der einzige literarische Stoff, den ich habe. Das liegt nicht nur an mir. Die Zeit ist hungrig nach Trauer, wahrscheinlich waren andere Zeiten es auch, aber ich kenne eben nur diese. Die Zeit kommt mit der Trauer einiger (die Anderen) besser klar als mit der anderer (die Einen). Die Zeit kommt erstaunlich gut mit dem Teilen von Videos der Ermordung Schwarzer Menschen klar. Die Zeit steht auf die Trauma-basierten Plots marginalisierter Ausnahmen.
Manchmal, wenn ich in meinem Schreibzimmer sitze, kriege ich Besuch. Da das Zimmer nicht existiert, kommen alle möglichen Leute vorbei. Nicht nur die Ausnahmen, sondern auch die anderen Anderen: ärmere Schwarze Frauen, lautere Schwarze Frauen, dunklere Schwarze Frauen, gar düstere Schwarze Frauen. Jene, die ertrinken und jene, die mit zugeschnürter Kehle Gewalt erfahren. Manchmal wird sehr viel gelacht.
Wenn May Ayim Gedichte liest, in meinem tiefroten Zimmer aus Plastik, setzt sie sich in die Ecke mit den vielen Topfpflanzen, die wir aus den Töpfen genommen haben. Sie schlagen Wurzeln nach oben, spannen sie durch den Raum wie Lianen. Dort trauert May nur so, wie sie will. Sie weigert sich, den Blues alleine auf sich zu nehmen. Sie hält ihn dem einen Drittel der Welt hin, verdirbt ihnen das Fest. Wenn sie die rassistischen Sprüche wider-gibt, gibt sie auch die Scham wieder, gibt sie zurück. Wenn sie lacht, in dem großen Zimmer zwischen den Sternen, könnten wir oft weinen. Sie lacht und lacht aus und es ist nicht frei von Trauer. Aber für einen kurzen Moment trauern wir in Ruhe, nur für uns.
Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.
Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »WOW: Das Neujahrs-Casino mit Inokai & Sielmann«, mit Sandra Hetzl, Sebastian Köthe, Biba Nass, Raphaëlle Red, Slata Roschal, Caca Savic, Felix Schiller, Miriam Zeh und den Kuratorinnen Yael Inokai und Lara Sielmann am 17. Januar 2023.
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