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Angst

Tim Holland

Angst_Tim Holland

Angst-Möglichkeitsdiagramm © privat

Ich habe Angst. Ich hatte schon als Kind Angst. Und ich habe als erwachsener Mensch Angst. Ich habe im Hellen Angst. Oft. Und ich habe im Dunkeln Angst. Immer. Eine bestimmte kindliche Angst vor Mördern, die mir im Dunkeln auflauern, hat mich nie verlassen. Außerdem habe ich Angst vor Spritzen, davor, an einer Gräte zu ersticken, in Gruppen aufzufallen und schlimmer noch: öffentlich Fehler zu machen, und vor Männern, die stärker sind als ich, was Fitnessstudios zu paradoxen Orten macht: Das Training lässt zwar langsam, aber stetig meine eigenen Muskeln wachsen, gleichzeitig bin ich umgeben von so vielen stärkeren Männern wie sonst nirgends – geht es den anderen Männern auch so? Darüber hinaus habe ich Angst vor Zahnärzten, Krokodilen, Bären und vor Menschen im Allgemeinen und ihrem Tun und ihren Gedanken im Besonderen.

„Was könnte, sollte oder müsste geschehen“, fragt meine Angst unentwegt und denkt dabei nicht an Robert Musil und seinen Möglichkeitssinn. Meine Angst liebt einfach den Konjunktiv. Ich versuche, Möglichkeiten und deren Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, und dabei gilt: Je mehr Möglichkeiten, desto mehr Angst (siehe Abb. 1). Wobei es perfiderweise natürlich auch umgekehrt ist: Je mehr Ängste und Sorgen ich habe, desto mehr Möglichkeiten scheint es für sie zu geben. Damit wird ein endloser Strudel in Bewegung gesetzt (siehe Abb. 2).

Meine Angst ist meine größte Potenz. Meine Angst ist die beste Erzählerin. Wenn es mir schwerfällt, angesichts der Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit der Welt linear und kausal zu erzählen, kann sie es. „Was wäre, wenn?“, fragt meine Angst, macht dabei Unmögliches möglich, und am Ende bleibe ich lieber im Bett liegen. Dabei ist „What if?“ verrückterweise genau die Frage, die ich mir zurzeit stelle, wenn ich spekulative Texte schreibe. Hier erlebe ich dieselbe Frage als Grenzen einreißend, Undenkbares wird denkbar, den Status Quo kann ich auf den Kopf stellen und Tiere, Menschen und Pflanzen können gemeinsam eine Revolution starten, um auf dem beschädigten Planeten eine neue Form des Zusammenlebens zu installieren.

„Let me call my anxiety, desire, then“, schreibt Natalie Diaz in ihrem Gedicht »From the Desire Field«. Meine Angst als Verlangen zu denken und anzuerkennen, fällt mir nicht leicht. Aber ab und zu gelingt es mir, die Erzähllust zu kanalisieren, die im Möglichkeitssinn meiner Angst steckt.

 


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Stoffe: Spekulative Poesie«, mit Daniel Falb, Alexander Graeff, Tim Holland und Rike Scheffler am 28. September 2022.

Materialsammlung »Stoffe«

Angst_Tim Holland

Angst-Möglichkeitsdiagramm © privat

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Tim Holland

Angst-Möglichkeits-Strudel

Angst-Möglichkeits-Strudel

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