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Altes

Franziska Gänsler

34_Gänsler_Altes © privat

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Mein Vater sagt, ich bin die Bewahrerin der Dinge und er meint damit Gegenstände, die unserer gemeinsamen Geschichte entstammen. Den Milchtopf seiner Mutter oder den Schrank seines Opas – Objekte, die einmal Teil seines Alltags waren und die er jetzt bei mir besuchen kann. Ich besitze nicht besonders viel, aber tatsächlich, in meiner Wohnung steht das Sofa einer Großmutter unter dem Irene Portrait von Franz Gertsch, ich schneide mit einem geerbten Küchenmesser, schreibe am alten Tisch eines Großvaters.

Es liegt ein Widerspruch darin, dass all das ausgerechnet Teil meines Hausrats ist, weil ich in der Familie die bin, die am häufigsten umzieht, wofür alte Möbel nicht gemacht sind. Sie sind schwer und kaum zerlegbar, aber durch sie wurden neue Wohnungen in neuen Städten auch schnell zu meinen. Sie tragen die Handgriffe von Menschen, die mir wichtig waren, sie transportieren konkrete Bilder.

Ich denke an die Großeltern, wenn ich Milch erhitze und daran, dass es als Kind nichts Besseres gab, als Übernachtungen bei ihnen und, dass diese Tage zwischen Bücherei, Badesee und Fernsehfilm bis heute der Blueprint für meinen idealen Lebensstil sind.

Wenn ich schreibe, sind es oft die Gegenstände, an denen sich etwas festmacht. Ein kleiner Mantel, der gestrickt wird, bevor das Wetter kippt. Der Küchenstuhl, auf dem eine Frau den Tod nicht begreifen kann. Eine blauer Plastikkamm. Objekte als verbale ready mades, ich greife sie aus ihrer ursprünglichen Realität und stelle sie in einen fiktiven Raum. Ihre Bedeutung ändert sich mit dem Kontext und den Erfundenen, die sie nutzen, aber dadurch, dass sie einmal echt waren, sind sie Knotenpunkte. Die Dinge legen ein Netz aus Erinnerungen in den Text und in meine Wohnung und ich bewege mich durch sie hindurch und stelle Neues dazu.

 


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »DYKE DOGS Literatur Salon«, kuratiert von Eva Tepest und Lynn Takeo Musiol, mit Duygu Ağal, Magda Albrecht, Kaśka Bryla, Samantha Bohatsch, Karen-Susan Fessel, Franziska Gänsler, Anna Hetzer, Selma Matter, Ronya Othmann, Marie Lucienne Verse, Hengameh Yaghoobifarah und Derya Yıldırım, am 15. September 2022.

Materialsammlung »Stoffe«

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