Sommerakademie, später
In den vergangenen 20 Jahren hat das LCB ein weit verzweigtes Netz der Übersetzer·innen deutschsprachiger Literatur aus aller Welt geknüpft. Weit über 1000 Teilnehmer·innen zählen die Sommerakademien, Übersetzertreffen, Textwerkstätten und Residenzprogramme, die daraus hervorgegangen sind. Viele dieser Aktivitäten wurden im Coronajahr 2020 ausgebremst, die Lust am Austausch blieb davon jedoch unbeschadet. An die Stelle der Einladung zur Sommerakademie mit ihren Autorenlesungen (Judith Hermanns „Sommerhaus, später“ stand im Mittelpunkt der ersten Veranstaltung im Jahr 2000), den Kritikergesprächen und Verlagsbesuchen tritt in diesem Jahr ein digitales Programm mit drei verschiedenen Bausteinen, die wir in Form dieses Digital Essays in Zusammenarbeit mit dem TOLEDO-Programm präsentieren: das TOLEDO-Journal »Töchter«, der Auftakt der TOLEDO Talks mit einer Reihe zum Thema „Berührungsängste“ sowie Aufzeichnungen von Gesprächen mit Kritiker·innen, einer Buchhändlerin, einer Übersetzerin, einem Lektor und einem Verlagsleiter.
1) TOLEDO-Journal:
»Töchter«, mehrstimmig
Wir beginnen mit einem „Kind“ der Sommerakademie. August 2018: Lucy Frickes Lesung in der Sommerakademie elektrisierte die versammelte Zuhörerschaft, 16 Literaturübersetzer·innen aus 13 Ländern, ihr Roman „Töchter“ hatte sich da schon vom Geheimtipp zum Bestseller entwickelt, erste Lizenzverkäufe ins Ausland sollten sich anbahnen. Mit dabei waren die in Hamburg lebende Irin Sinéad Crowe und María Tellechea aus Buenos Aires. Sie wurden die Übersetzerinnen dieses Buches ins Englische und Spanische. Und es fügte sich, daß auch die Berliner Französin Isabelle Liber den Auftrag erhielt, „Töchter“ für einen kanadischen Verlag zu übersetzen. Die Idee zu einem dreistimmigen TOLEDO-Journal war geboren. Das digitale Journal ist, dem Roman angemessen, ein literarischer Roadtrip geworden, eine temperamentvolle, witzige Chronik des Ringens um die bestmögliche Verwandlung einer Geschichte, eines Erzähltons, einer Stimmung in eine andere Sprache. Eingebettet ist ein Film, der dem Reisen, Schreiben und Übersetzen gewidmet ist. Er fängt in Istanbul an, wo Lucy an ihrem neuen Roman schrieb (Regie: Diana Näcke), und macht Station in Buenos Aires, Berlin und Hamburg, mit Abstechern zu den jeweiligen Verlagshäusern. Vorhang auf zur „Töchter“-Premiere!
Lights, Camera, Action!
»Man stellt sich oft Übersetzer·innen als in sich gekehrte Menschen vor, die mehr Zeit mit Büchern als mit ihren Mitmenschen verbringen. Dass wir viel Zeit mit Büchern verbringen, stimmt wohl. Über die Frage, ob wir schweigsam sind, liesse sich dennoch streiten… Wir jedenfalls fanden großen Gefallen daran, uns über unsere Arbeit auszutauschen.
Ein für uns wichtiger Ort des Austausches ist zum Beispiel die Sommerakademie für Übersetzer·innen deutschsprachiger Literatur, die jedes Jahr im Literarischen Colloquium Berlin stattfindet. Parallel zu unserem Journal haben wir zusammen mit Lucy Fricke für die Eröffnung der diesjährigen Sommerakademie 2020 an einem Filmprojekt gearbeitet, das ein Austausch zwischen der Autorin und ihren Übersetzerinnen bildet und sich mit dem Reisen, dem Schreiben und dem Übersetzen auseinandersetzt. Der Film fängt in Istanbul an, wo Lucy an ihrem neuen Roman schrieb, und wird dann in Buenos Aires, Berlin und Hamburg, mit zusätzlichen Abstechern zu unseren Verlagshäusern, weitergeführt.
Für dieses vielstimmiges Gespräch haben wir uns auf einen Spaziergang am Wasser begeben, vielleicht weil Wasser ein Symbol für Verbindung und auch für Verwandlung ist – von einer Sprache zur anderen…
Und nun fängt es an: Licht aus – Film ab!« (Isabelle Liber und Sinéad Crowe)
2) Berührungsängste – Start der TOLEDO TALKS
Masken, Abstand, Kontaktverbote: Berührungsängste haben in Zeiten der Coronapandemie eine Sonderkonjunktur. Und motivierten uns zu der Frage, welche Berührungsängste beim Übersetzen eigentlich eine Rolle spielen. Übersetzer·innen kennen das: die Hemmungen, einen vielfach übersetzten Klassiker neu anzugehen oder sprachlich komplexen Ausgangslagen zu begegnen; die Scheu, harten, verstörenden Stoffen eine Sprache zu geben; die Gefahr, politisch vermintes Gelände zu betreten, oder auch die eigene Position mit den postkolonialen Diskursen unserer Tage zu hinterfragen. Wir haben 30 Übersetzer·innen aus aller Welt nach ihren Berührungsängsten beim Übersetzen gefragt, und viele interessante, zum Teil sehr persönliche Antworten erhalten. Sie zeigen, wie stark Übersetzer·innen in politische und gesellschaftliche Auseinandersetzungen involviert sein können, und wie spannungsgeladen der „Austausch der Kulturen“ mitunter verläuft. Die Reihe wird im kommenden Jahr fortgesetzt. Sie bildet den Auftakt zu den TOLEDO TALKS, in denen das TOLEDO-Programm einen neuen Raum für Erfahrungsaustausch öffnet.
Auch bei den TOLEDO TALKS mischen sich die Formen: kurze Essays sind dabei, Statements aus Frankreich, ein Gespräch der Übersetzerin Roberta Gado mit ihrem Autor Clemens Meyer, bewegte Bilder einer Diskussion mit Camille Luscher und Carolin Emckes französischem Übersetzer Alexandre Pateau, und schließlich ein künstlerisches Video aus Stettin: Iwona Nowacka erzählt von ihrer Liebe zum Deutschen, der „Sprache des Feindes“. Alle Beiträge sind auf der TOLEDO-Webseite versammelt, die Videobeiträge finden sich ebenfalls hier nachfolgend:
Camille Luscher und Alexandre Pateau: »Als Mann Carolin Emcke übersetzen«
(Untertitel können durch Klick auf »cc« hinzugeschaltet werden)
Iwona Nowacka: »Die Sprache des Feindes«
Roberta Gado und Clemens Meyer
3) Kritiker·innengespräche
Die literarische Kritik bewege sich in Deutschland auf ziemlich hohem Niveau – sagen uns die Gäste der internationalen Übersetzertreffen, zu denen wir immer auch Literaturkritiker·innen zu Vorträgen und Diskussionen über die aktuelle deutsche Literatur einladen. Das sind interessante und aufschlussreiche Begegnungen, denn das, was hierzulande von der Kritik geschätzt wird, unterscheidet sich oft ganz erheblich von dem, was in andere Sprachen übersetzt wird und dort mit mehr oder weniger Resonanz ankommt. Von ähnlichen Erfahrungen berichten die Berliner Verlage, denen wir regelmäßig unsere Besuche abstatten. Mit vielen Lektürehinweisen und Buchexemplaren versorgt, beginnt nach solchen Treffen ein geheimnisvoller Rezeptionsprozess in den Köpfen und Herzen der Übersetzer·innen. Dieses Eigenleben der Literatur soll auch in diesem Jahr mit neuen Büchern genährt werden. Thomas Geiger (LCB) hat die Kritiker·innen Wiebke Porombka, Jutta Person, Marie Schmidt und Tobias Lehmkuhl und die Verlagsmenschen Andreas Rötzer (Matthes & Seitz Berlin) und Oliver Vogel (S. Fischer Verlag) in mehreren Zoom-Gesprächen nach ihren deutschsprachigen Büchern des Jahres 2020 gefragt. Wir ergänzen die Plädoyers um die Stimme einer engagierten Buchhändlerin, die sich auskennt mit den Geschmäckern der deutschen Leser·innen: mit Christiane Hahn vom Buchladen Anakoluth in Berlin-Prenzlauer Berg spricht die Übersetzerin Stéphanie Lux.
Stéphanie Lux und Christiane Hahn sprechen in der Berliner Buchhandlung anakoluth über ihre Übersetzungsempfehlungen 2020:
Angela Lehner »Vater unser«
Miku Sophie Kühmel »Kintsugi«
Lea Schneider »Made in China«
Lutz Seiler »Stern 111«
Clemens J. Setz »Die Bienen und das Unsichtbare«
Tobias Lehmkuhl (freier Literaturkritiker, u.a. für Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung und Deutschlandfunk Kultur) im Gespräch mit Thomas Geiger (LCB) über vier aktuelle deutschsprachige Romane:
Thomas Kling »Werke in vier Bänden«
Friederike Mayröcker »da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete«
Jan Kuhlbrodt »Die Rückkehr der Tiere«
Martin Gross »Das letzte Jahr. Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land«
Marie Schmidt (Literaturredakteurin bei der Süddeutschen Zeitung) im Gespräch mit Thomas Geiger über vier aktuelle deutschsprachige Bücher:
Leif Randt »Allegro Pastell«
Christine Wunnicke »Die Dame mit der bemalten Hand«
Valerie Fritsch »Herzklappen von Johnson & Johnson«
Anne Weber »Annette, ein Heldinnenepos«
Jutta Person (freie Literaturkritikerin und Autorin) im Gespräch mit Thomas Geiger über vier aktuelle deutschsprachige Bücher:
Ulrike Draesner »Schwitters«
Thomas Hettche »Herzfaden«
Frank Witzel »Inniger Schiffbruch«
Ulrike Almut Sandig »Monster wie wir«
Wiebke Porombka (Literaturkritikerin) im Gespräch mit Thomas Geiger über vier aktuelle deutschsprachige Bücher:
Ronya Othmann »Die Sommer«
Olivia Wenzel »1000 Serpentinen Angst«
Deniz Ohde »Streulicht«
Verena Güntner »Power«
Oliver Vogel (Lektor beim S. Fischer Verlag) im Gespräch mit Thomas Geiger über drei aktuelle deutschsprachige Bücher:
Paul Maar »Wie alles kam. Roman meiner Kindheit«
Roman Ehrlich »Malé«
Marlene Streeruwitz »So ist die Welt geworden«
Andreas Rötzer (Verleger Matthes & Seitz Berlin) im Gespräch mit Thomas Geiger über drei aktuelle deutschsprachige Bücher:
Ludger Weß »Winzig, zäh und zahlreich. Ein Bakterienatlas«
Heike Behrend »Menschwerdung eines Affen. Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung«
Joshua Groß »Flexen in Miami«
Konzeption / Redaktion: Jürgen Jakob Becker (LCB), Aurélie Maurin (TOLEDO-Programm).
Mitarbeit: Kathrin Bach, Solveig Bostelmann.
Wir bedanken uns sehr herzlich bei den vielen, die Texte, Ideen und technischen Support beigesteuert haben. „Sommerakademie, später“ wird aus Mitteln des Auswärtigen Amts gefördert – auch hierfür bedanken wir uns.