Die (ideale) postsozialistische Frau?
Die (ideale) postsozialistische Frau
Alternative Frauenbilder, Emanzipation und Feminismus – oder das tradierte Frauenbild, Mütterlichkeit und Selbstaufopferung? Die Deutungshoheit darüber, wie eine ideale Frau in den ehemals sozialistischen Ländern Europas zu sein hat, wird oft ideologisch aufgeheizt. Eine Debatte scheint kaum möglich. Mit dem vorliegenden Essay schauen wir sachlicher, gleichzeitig sehr persönlich und folglich ausschnitthaft auf das Phänomen der „postsozialistischen Frau“.
Die drei Künstlerinnen
Yevgenia Belorusets, Katja Fedulova und Katarzyna Kalwat sind genaue Beobachterinnen ihrer eigenen Generation und nehmen dabei stets Individuen in den Blick. Sie spüren den gelebten Frauenbildern auf vielfältige künstlerische Weise nach, sei es in dokumentarischer Form, in einer Mischung aus Dokumentation und Fiktion oder als reine Fiktion. Dabei zeichnen sie ein kontrastvolles, sich widersprechendes Bild ihrer Generation – einer hybriden Generation, die ihre Kindheit in einem sozialistischen Staat verlebte, dann jedoch in ihrer Jugend – bedingt durch die politische Wende von 1989 – mit dem „Westen“ konfrontiert wurde.
Yevgenia Belorusets
Die Künstlerin und Schriftstellerin lebt und arbeitet in Kiew und Berlin. Sie ist Mitbegründerin von »Prostory« (2017), einer Zeitung für Literatur und Kunst, und seit 2009 Mitglied der Kuratorengruppe »Hudrada«. Sie arbeitet mit Fotografie und Kritischem Schreiben an der Schnittstelle von Kunst, Literatur und sozialem Aktivismus – hier unter anderem Teilnahme im ukrainischen Pavillon der Biennale in Venedig (2015) sowie der Kiew Biennale (2015, 2017). Seit 2014 war sie an Menschenrechtsinitiativen in der Ostukraine beteiligt. 2019 ist ihr Buch »Glückliche Fälle« (Matthes & Seitz, 2019) erschienen. Das Buch wurde mit dem Internationalen Literaturpreis 2020 verzeichnet.
In ihrem Buch »Glückliche Fälle« erzählt Yevgenia Belorusets Geschichten, die sie im Kriegsgebiet im Donbass gesammelt hat. Es handelt sich dabei um Geschichten aus der zweiten Reihe des Krieges. Sie erzählen von den unmittelbaren Konsequenzen, denen die Menschen, vor allem Frauen, ausgesetzt sind. Die Autorin mischt Dokumentation mit Fiktion und stellt dem Text Fotografien aus ihren Serien »Krieg im Park« sowie »Und ich behaupte: Der gestrige Tag hat noch nicht begonnen« (beide 2017) zur Seite.
Yevgenia Belorusets liest aus »Glückliche Fälle«: „8. März. Die Frau die nicht mehr laufen konnte“
Katja Fedulova
Die Filmemacherin wurde 1975 in Leningrad, UdSSR (heute St. Petersburg, Russland), geboren. 1993 wurde sie in der Muchina Kunstakademie in St. Petersburg aufgenommen, floh aber ein Jahr später aus dem Chaos der Perestroika nach Deutschland und begann ihr Studium an der Muthesius Hochschule für Kunst und Design in Kiel. Nach dem Diplom (2000) zog es sie nach Berlin, um Film an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin zu studieren. Sie ist Mutter von zwei Kindern. Seit 2005 ist Katja als freie Kamerafrau und Regisseurin der Filme »Glücksritterinnen« , »Mein Name ist Khadija« und »Drei Engel für Russland – Glaube, Hoffnung, Liebe« tätig.
Am Anfang ihres Filmes »Drei Engel für Russland: Glaube, Hoffnung, Liebe« (2017) stand die Geschichte ihrer Großmutter, einer Kämpferin im Zweiten Weltkrieg. Der Film folgt drei jungen, russischen Frauen auf ihren beruflichen und politischen Wegen. Sie trifft Olga, Natalia und Anastasia, drei Russinnen, die für ihr Land auf ganz unterschiedliche Weise kämpfen.
Katarzyna Kalwat
Die Regisseurin studierte politische Psychologie an der Jagiellonian University in Krakau und Regie am Directing Department der Aleksander Zelwerowicz Theater Academy in Warschau. Sie befasst sich mit prozessualen Formen und arbeitet an der Schnittstelle verschiedener künstlerischer Disziplinen. Darüber hinaus erforscht sie die Gemeinsamkeiten von Performance und Theater. Sie ist Trägerin eines von der französischen Regierung ausgeschriebenen Stipendiums für Dokumentarfilm und Regisseurin von »Rechnitz. Opera. The Exterminating Angel«, produziert von TR Warszawa.
Das Projekt »Maria Klassenberg« ist eine Mischung aus Spektakel, Installation und Ausstellung. Kalwat entwickelt die fiktive Figur einer Performance-Künstlerin, die gleichzeitig als Stellvertreterin für die unbekannten weiblichen Künstlerinnen fungiert, die nun von Kuratorinnen wiederentdeckt und vermarktet werden. Die Theaterregisseurin verbindet das Kunstsystem der Volksrepublik Polen mit dem heutigen.
Die Künstlerinnen im Gespräch
In den hier gezeigten Projekten wird deutlich, dass die Brücken in die sozialistische Zeit nicht abgebrochen sind. Die drei Künstlerinnen arbeiten dabei mit unterschiedlichen methodischen Konzepten, welche gleichfalls die Vielfalt feministischer (künstlerischer) Forschung widerspiegeln. Die Kunsthistorikerin und Genderforscherin Constance Krüger war mit den drei Frauen im Gespräch:
Yevgenia Belorusets
Der 8. März und dessen Bedeutungswandel seit 1989:
Die Rolle der dokumentarischen Fotografin:
Die Bedeutung ihres Lebens zwischen zwei Ländern für ihre künstlerische Arbeit:
Russische und ukrainische Identitätspolitik während des Krieges im Donbass:
Die weibliche Stimme im Buch Glückliche Fälle:
Bei Yevgenia Belorusets stehen der Krieg und die Kriegserfahrungen im Vordergrund. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, dass hier vor allem Frauenschicksale gezeigt werden. Die Fokussierung auf das Menschliche, in dem das Weibliche einen Teilaspekt ausmacht, ist symptomatisch auch für die feministische Auseinandersetzung in Osteuropa. In Belorusets Arbeiten werden die Interdependenzen von Gender mit Politik, sozialer Stellung und Ethnizität sichtbar.
Katja Fedulova
Sowjetische Kämpferinnen im Zweiten Weltkrieg und Kämpferinnen im heutigen Donbassgebiet:
Gender-Stereotype im heutigen Russland, die Wahl der Protagonistinnen und der Kamerablick bei »Drei Engel für Russland – Glaube, Hoffnung, Liebe«:
Das sozialistische Frauenbild und dessen Nachwirken in der Gegenwart:
Katja Fedulova richtet ihren soziologischen Blick auf real existierende Frauen, die sie mit der Kriegsgeneration ihrer Großmutter verklammert. Sie arbeitet aus einem biografischen Impuls heraus, ganz im Sinne des urfeministischen Ansatzes „Das Private ist politisch“. In »Drei Engel für Russland – Glaube, Hoffnung, Liebe« bringt sie sich argumentierend und
streitend in den Film ein. Diese Sichtbarmachung des eigenen, individuellen Standpunktes der Künstlerin gegenüber der gewohnten Unsichtbarkeit und Standpunktlosigkeit des Dokumentaristen kann in Anlehnung an Donna Haraways Konzept der ›Situated Knowledges‹ als feministisches Konzept verstanden werden.
Katarzyna Kalwat
Über die fiktive Figur Maria Klassenberg:
Aneta Grzeszykowskas Einfluss auf das Projekt Maria Klassenberg:
Katarzyna Kalwats Projekt nimmt sich, ganz im Sinne der frühen Frauenforschung, der Suche und Sichtbarmachung einer vergessenen Künstlerin an. Dass dieses archäologische Projekt längst nicht abgeschlossen ist, zeigt auch der aktuelle Boom in Polen, der in den letzten Jahren eine ganze Zahl vergessener Künstlerinnen sichtbar gemacht hat. In ihrer, fiktiven, künstlerischen Forschung,
verbindet Kalwat explizit zwei Zeitebenen: Ausgehend von einem aktuellen, doppelt weiblichen Standpunkt (Kalwat und Grzeszykowska) blickt sie auf die als patriarchal bezeichnete Kunstszene der Volksrepublik Polen. Offen bleibt, ob die imaginierte Kunst tatsächlich historisch tragbar ist oder aber ob die Imagination nicht eher Spiegel der heutigen Kunstszene ist.
Wir baten die Künstlerinnen uns ein Bild ihrer Kindheit im Sozialismus zu schicken und dieses mit einem Kommentar zu versehen.
Es ist ein Bild, das von einem Profifotografen im Kindergarten aufgenommen wurde. Man hat mir ganz deutlich und klar gesagt, wie ich stehen muss, wie ich die Hand und den Körper halten soll. Ich sehe auf dem Bild ein wenig erschrocken aus, aber tief in den Augen erkenne ich auch meine Wut und Unzufriedenheit über den Prozess des Fotografierens. (Yevgenia Belorusets)
Das Foto zeigt mich während einer Feier in den Ferien. (Katarzyna Kalwat)
Das Bild zeigt meine Familie während eines Sommerurlaubs in Tallinn, Estland. Meine Mutter Zoja Ivanovna Fedulova war das Haupt der Familie. Sie organisierte alles. Sie hat zum Beispiel unsere Finanzen in der Familie kontrolliert. So konnten wir einmal im Jahr in den Urlaub fahren. Mein Vater gab ihr jeden Monat sein Gehalt und ließ für sich nur etwas ,Taschengeld‘, das er dann für Zigaretten, billigen Wein und Bier ausgab. Er war aber kein Trinker, solange unser sozialistisches System funktionierte. Nachdem es krachte, wurden meine Eltern arbeitslos. Mein Vater verlor seine Ingenieur-Stelle. Das staatliche Urbanistik-Institut, wo meine Mutter als Städtebau-Architektin und Abteilungsleiterin tätig war, wurde ebenfalls geschlossen. (Katja Fedulova)
Neuformulierung feministischen Wissens
An die künstlerischen Arbeiten lassen sich neueste Forschungen anschließen, die das allgemeine Postulat einer nicht existenten gendersensiblen oder gar feministischen Forschung zu Zeiten des Staatssozialismus infrage stellen. Anstelle eines nachgeordneten Abgleichs mit westlichen Theorien arbeitet die Forschung nun ansatzweise an der Neuformulierung feministischen Wissens, die auch die Lebenssituationen und Normierungen des sogenannten Ostblocks in den Blick nimmt. Das Postulat der Scheinemanzipation gerät damit ins Wanken, auch wenn der Einfluss beispielsweise der geduldeten Frauenorganisationen auf die Entwicklung einer eigenständigen, das heißt parteiunabhängigen Agenda weiterhin kontrovers diskutiert wird. Das Verständnis der postsozialistischen Frau kann aber erst dann entwickelt werden, wenn das Bild der sozialistischen Frau in seiner Vielfalt, Ambivalenz und historischen Veränderlichkeit in den Blick rückt – und zwar in Form von unvoreingenommenen Detailstudien.
Die in den hier vorgestellten künstlerischen Arbeiten am konkreten Beispiel sichtbar gemachten Generationen von sozialistisch sozialisierten und postsozialistisch bezeichneten Frauen sind solche Mikrostudien und damit Teile eines Puzzles, das erst in Zukunft zu einem Ganzen zusammengesetzt werden kann.
Grundsätzlich bleibt die Frage: Wie kann man feministisches Handeln begreifen, wenn die Emanzipation der Frau nicht als Graswurzelbewegung erkämpft wird, sondern von Staatsseite gesetzlich festgeschrieben ist?