Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Andrea Scrima

Andrea Scrima geboren in New York City, studierte Kunst in New York und Berlin, wo sie seit 1984 als Autorin und bildende Künstlerin lebt. 2018 erschien die deutsche Übersetzung ihres Romans A Lesser Day (Wie viele Tage) im Literaturverlag Droschl; 2021 folgte Kreisläufe (Like Lips, Like Skins). Sie schreibt Essays für u. a. Times Literary Supplement, FAZ, Schreibheft, Music & Literature, The American Scholar, LitHub und The Brooklyn Rail, ist Chefredakteurin der Literaturzeitschrift StatORec und veröffentlicht regelmäßig eine Kolumne bei Three Quarks Daily

Lilian Peter
Mutter geht aus
Essays, diaphanes, Zürich 2022

Ich habe immer noch Schwierigkeiten, dieses kluge Buch Mutter geht aus zusammenzufassen – es ist eine sehr eigene, sensible, mäandernde Suche nach etymologischen, mythologischen, philosophischen Spuren scheinbar unverwandter Themen. Aus dem Unterbewusstsein der Kulturgeschichte spürt Lilian Peter ursprüngliche Querverbindungen auf, die wie Mineraladern durch die Wortstämme führen, und konstruiert sie zu einem mehrdimensionalen sprachlichen Gebilde verborgener Verwandtschaften. Es ist ein Schreiben, das sich entlang von Grenzen bewegt und stets mit einem Risiko einhergeht – denn die eigene Position als Außenseiterin, als Frau, die ständig mit männerdominierten (zum Beispiel historiographischen) Strukturen konfrontiert ist, die sie als denkendes Subjekt ausschließen, bringt die Gefahr mit sich, auch den eigenen Verstand zu verlieren.

Lilian Peter arbeitet zunächst essayistisch, wobei etwa Kindheitserinnerungen über die eigene Ichwerdung eingeflochten werden, Reiseerinnerungen mit Blick auf fremde/vertraute Denkweisen oder eine Erzählung über die epigenetische Verbindung zu einer Großmutter, die sie nie richtig kennengelernt hatte, und eine unheimlich anmutende Wiederholung einer Situation aus deren Leben in ihrem eigenen Leben: das Unvermögen eines Schulkindes, sich an die herrschenden Denkstrukturen anzupassen.

Von der Form her ist es, als ob das Erzählerische die Diskurse durchlöchert und allerorten durch deren Ritzen dringt. Und immer wieder: die Perspektive einer Frau, die sich nicht unbedingt als besonders weiblich betrachtet – das ist nicht der Punkt – sondern als denkender, schreibender Mensch, der in der gegebenen (männlichen) Geistesgeschichte keinen Platz für sich finden kann – und daher nach Auswegen sucht, nach Möglichkeiten einer (anderen) Sprache.

Hier eine kurze Passage über Max Frisch:
Stiller war für mich lange Zeit das wichtigste Buch überhaupt, ich habe es wieder und wieder und wieder gelesen, habe mich selbst wieder und wieder und wieder als „Stiller“ zu schreiben versucht, aber etwas daran stimmte nicht, etwas daran funktionierte nicht, und sehr lange verstand ich nicht, was. Die „Krise“ der Identität macht die Geschichte der Identität letztlich nur sattelfester und ihre Strategien perfider. Stiller sagt nicht die Wahrheit, wenn er behauptet, er habe keine Sprache für seine Wirklichkeit; der Boden, auf dem er läuft, ist uralt, er beschreibt nur ein gewisses Unbehagen daran und arrangiert die Wörter neu. Der Frau steht hingegen weder der Topos der Identität zur Verfügung noch der der verweigerten Identität, sie hat keinen bereits bestehenden Sprachboden, auf den sie laufen kann, die Geschichte will ja gar nicht, dass sie überhaupt läuft (reist, geht, fliegt, stiehlt, schreibt). Die Geschichte will vielmehr, dass sie der Boden ist, der Ort, von dem der Identitätssuchende/Identitätsverweigernde sich abstoßen kann, um zu sagen: Ich bin nicht Stiller.

Empfehlungswerte Lektüre!

Mehr Informationen