Leselampe

2022 | KW 16

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Buchempfehlung der Woche

von Amalija Maček

Amalija Maček ist Literaturübersetzerin aus dem Deutschen ins Slowenische und übersetzte u.a. Werke von Autor·innen wie Ilse Aichinger, Bertolt Brecht, Ulrich Peltzer, Terézia Mora, Josef Winkler und Peter Handke. Für ihre Übersetzung des Romans Mein Jahr in der Niemandsbucht  von Peter Handke erhielt sie 2021 den Fabjan-Hafner-Preis.

Marlen Haushofer
Die Wand
(Roman), Ullstein: List Verlag, Berlin 2014 (OA: Sigbert Mohn Verlag, 1963)

1963 veröffentlichte Marlen Haushofer ihren utopisch-apokalyptischen Roman Die Wand, ein „Sehnsuchtsbild und Horrorszenario“ zugleich (Anke Sterneborg), der ihr noch im gleichen Jahr den Arthur-Schnitzler-Preis einbrachte, sowie Lob von Hans Weigel, der ihr Werk mit Robinson Crusoe verglich. Jenseits der Zivilisation landet diesmal eine Frau, Stadtbewohnerin, die beim Ausflug in die Berge eines Morgens feststellt, dass sie alleine mit einigen Tieren als einzige Überlebende hinter einer plötzlich aufgetauchten Glaswand geblieben ist, hinter der alles Leben erstarrt ist, womöglich als Folge einer atomaren Katastrophe. Die Einsiedlerin wider Willen sorgt für die Tiere, zählt die letzten Streichhölzer, erfährt den Überlebenskampf am eigenen Körper und führt Tagebuch, das am Ende nichts Gutes erahnen lässt. – Die Autorin selbst sah in der Glaswand seelische Zustände der zwischenmenschlichen Entfremdung, die „nach außen hin plötzlich sichtbar“ werden. Die feministische Bewegung sah in ihrem Roman den ultimativen Emanzipationstext. In diesem Kontext wurde uns der Roman während des Germanistik-Studiums in den 90-er Jahren von unserer Professorin Neva Šlibar nahegelegt. Viele Jahre danach sind mir von der umfangreichen Pflichtlektüre oft nur noch Erinnerungen an eine bestimmte Farbe übriggeblieben. „Die Wand“ ist dunkelgrün. Sehr dunkel.

2013 gab mir die Verlegerin, Literatur- und Theaterkritikerin Petra Vidali einen übersetzerischen Freipass – nach sehr erfreulicher Zusammenarbeit an der slowenischen Ausgabe von Terézia Moras Alle Tage durfte ich erneut wählen, was ich wollte. Gewappnet mit Short- und Longlists diverser Buchpreise fuhr ich nach Graz, wo sich die nächstgelegene Buchhandlung mit reichem Repertoire an deutschsprachiger Literatur befindet. Lange Stunden verbrachte ich darin – und schlug letztendlich Die Wand aus dem Jahr 1963 vor. Zu meinem Glück wurde das Buch 2012 sehr erfolgreich von Julian Roman Pölsler mit der wunderbaren Martina Gedeck in der Hauptrolle verfilmt, so dass das Buch gerade wiederentdeckt wurde.

2014 ist die Übersetzung erschienen, wurde viel besprochen und die Verlegerin erhielt noch Monate danach Leserbriefe, wie wichtig dieses Buch für die eine oder die andere Leserin war. Wie die Werke von Josef Winkler, könnte auch Die Wand eins zu eins in die slowenische Landschaft und Mentalität übertragen werden. – Würde man Übersetzungen wie Bücher jemandem widmen, dann würde ich diese Übersetzung meinen Großeltern mütterlicherseits widmen. Ungefähr zur gleichen Zeit, als Marlen Haushofer ihren Roman schrieb, also zur Zeit des kalten Krieges, kauften sie, obwohl Stadtleute, ein altes Bergbauernhof in den Sanntaler-Alpen auf 900 m Höhe. Als Kinder verbrachten wir dort jeden Sommer (bis wir es als Jugendliche nicht mehr so gerne mochten, da all unsere Mitschüler·innen am Meer waren), gingen auf die Alm, versuchten uns ähnlich ungeschickt wie die Protagonistin des Romans im Mähen mit der Sense, und erst beim Übersetzen von Marlen Haushofer habe ich gemerkt, wie viel Vokabular und Erfahrung, die zur Vorstellungskraft wird, ich diesen Sommern zu verdanken habe. Den Wortschatz, den man beim Schreiben oder beim Übersetzen verwendet, muss man womöglich am eigenen Körper erfahren haben. Es schien mir alles so vertraut, so bodenständig und gar nicht Science-Fiction-mäßig wie einige Rezensenten es sahen. Es schien mir selbstverständlich, was so manchen Kritiker verwunderte, dass sich die Erzählerin gleich mit der Lage abfindet und tatkräftig wird.

Im März besuchte ich nach einigen Jahren Abwesenheit Berlin und trat auch in die Buchhandlung Dussmann ein. Rechts vom Eingang stapelten sich Novitäten. An einer Wand standen aber gleich mehrere Exemplare von Marlen Haushofers Die Wand angelehnt – auch das wunderte mich nicht, denn das Buch ist angesichts der atomaren Drohungen und der Aussicht des Lebensmittelmangels und der damit verbundenen lebenswichtigen Selbstversorgung leider aktueller denn je. Was mich störte und zum Schreiben dieses Textes bewegte, war die Aufschrift über diesem und noch einigen anderen Büchern: „Literatur und Depression“. Das fand ich ziemlich oberflächlich, herablassend und einfach nicht zutreffend. Oder war es als Werbung gemeint? Als einfühlsame Verständnisbekundung? Die Wand ist wirklich kein heiteres Buch, das gebe ich zu, aber für mich gibt es kaum ein Buch, dass so voller (Über) Lebenswille wäre, so voller Verantwortung den Tieren und der Natur gegenüber, in kaum einem anderen Buch findet man eine so selbstverständlich starke Frauenfigur … Es stört mich, wenn man (auch in slowenischen Literaturkreisen) bestimmte Autorinnen und ihre Werke so leichtsinnig mit laienhaften psychiatrischen Diagnosen brandmarkt (bei lebendigen Autorinnen oft, um sie per Gaslighting aus dem „Geschäft“ zu entfernen).  

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