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Walter Höllerer nachgerufen

Walter Höllerer nachgerufen

Günter Grass

(aus Sprache im technischen Zeitalter, Heft Nr. 166, S. 140-141)

Ein schief in der Gegend stehender Vogel,
der sich aus Bayern
nach Preußen verflogen hatte, lachte,
daß den Bäumen im März schon
die Knospen sprangen, lachte mit Echo
und notfalls die Linden frühzeitig gelb.

Fuhr meist auf Nebengleisen,
hielt an verkrauteten Bahnhöfen,
die Grabbe, Kleist, Niebergall und Jean Paul hießen.
Ich stieg mit ihm aus, verweilte,
während er schon woanders.

War mal hier, mal da,
spuckte reimlos gereimt Kirschkerne,
aber auch Vierzeiler, Langzeiler,
raffte Gedichte aus aller Welt,
die praktisch nicht Sinn machten
aber – schrecklich und schön –
transit ihren Weg suchen.
Hatten später gedruckt ihren Preis.

Als Berlin vermauert am Tropf hing,
hüpfte er quicklebendig
in die Schwangere Auster
und verkündete lauthals
des Überlebenskünstlers Poesie
saalsprengenden Auftritt.
Er lehrte uns hochstapeln
und tanzen auf einem Seil,
aus Wörtern gezwirnt.

Und sparte nie.
Geld gab er aus, zwölfhändig.
War aus Prinzip Verschwender.
Und alle zehrten von ihm:
heillose Dichter, fromme Buchhändlerinnen,
die Stadt, die nicht wußte,
wie ihr geschah.

Ach, wie sie ihm zu Füßen saßen,
wenn er die Götter – frisch- und altbacken –
vereinzelt oder in Gruppen auftreten ließ;
denn alle kamen, gelockt
von Schrägvogels Ruf.

War zugleich Projektemacher, Akzentesetzer, Silbenstecher,
Stifter, Gründer und Freund.
Viele Kostüme trug unser Vogel,
der Walter hieß,
dem im Ticktack der Elefantenuhr
die Zeit und schließlich die Laune verging,
doch dessen Lachen uns glauben machte,
es gäbe – mit violetter Tinte geschrieben –
das Paradies und in ihm ungezählt viele Vögel,
darunter seltsam schräge.

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