Leselampe

2022 | KW 12

© fk huhn

Buchempfehlung der Woche

von Uwe Schütte

Uwe Schütte, aufgewachsen in einer Kleinstadt im Sauerland, hat 30 Jahre in Großbritannien gelebt, erst als Student der German Literature an der University of East Anglia, wo er bei W.G. Sebald promovierte, dann als freier Kulturjournalist in London und über 20 Jahre als Universitätsdozent in Birmingham. Seit dem Brexit lebt er in Berlin-Kreuzberg und schreibt Bücher über W.G. Sebald, Kraftwerk, Gerhard Roth, Genesis P–Orridge, David Bowie sowie Essays bzw. Rezensionen aller Art für Volltext, Der Freitag, Neues Deutschland und die taz.

Nadja Küchenmeister
Im Glasberg
(Gedichte); Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2020

Der Glasberg, das ist ein Ort aus der bitterbösen Märchenwelt der Gebrüder Grimm, ebenso aber eine poetische Lokation in der Lyrik von Nadja Küchenmeister, weshalb man dahinter zunächst einen jener romantischen Zauberorte vermuten könnte, den die traditionelle Lyrik gerne beschwört. Mit dergleichen aber vermochte ich nie viel anzufangen, genauso wenig wie mit der bildungsbürgerlich beschwerten Lyrik zumeist männlicher Dichter der Gegenwart, die den ganzen Ballast ihres angelesenen Wissens in Verse fassen, deren gezierter Form man anmerken soll, dass die Renommierpoeten sich einzureihen trachten in die Tradition der Heroen ihrer Zunft. Eine solche Literatur der Großschriftsteller freilich empfand ich, sozialisiert als Arbeiterkind, immer als Ausschluss. Deshalb interessierte mich die Lyrik der Ausgeschlossenen ungleich mehr, vor allem die irren lyrischen Notate des Anstaltspatienten Ernst Herbeck oder die verrückte Dichtung seines Gugginger Leidensgenossen Edmund Mach.

Nun gehört Nadja Küchenmeister keineswegs in eine solche Reihe, doch finde ich in ihren Gedichten etwas, das mir fehlt in den Poemen der Empfindsamkeitsartisten, Sprachakrobatiker, Experimentalexperten und sonstigen Verserlschmieden aller Denomination der Gegenwartslyrik. Einen Ton, den man hilfsweise den Begriffen poetischer „Aufrichtigkeit“ und „Bescheidenheit“ annähern könnte. Was ebenso ihre Gedichte aus Im Glasberg mit den lyrischen Texten der schizophrenen Dichter-wider-Willen verbindet, ist der insistente Blick auf die Alltagswelt, die zum Reservoir poetischer Verwandlung wird. Dabei gilt Küchenmeisters besondere Aufmerksamkeit zumal solchen Alltagsdingen, die ungerechterweise als unbedeutend gelten, obgleich sie nicht selten wichtige Begleiter unseres Lebens sind; weshalb wir von ihnen nicht weniger affiziert werden, als sie von uns. So wissen ihre Gedichte um den Phantomschmerz der Absenz uns einst wichtiger Dinge, denn „kaum zu ertragen / der gedanke, fremde hände am lenker // halten das fahrrad in der spur“. Leicht vergisst man: Viele Alltagsdinge überleben uns, weshalb ihnen Geheimnisse innewohnen, die Küchenmeister freilegt etwa indem ihr lyrisches Ich bei alten Möbeln das „verlegene schweigen aus holz“ mit den Mitteln der Poesie beredt macht, um sie zu Zeugen unserer verlorenen Jahre zu machen.

Was mir immer wieder auffällt an Im Glasberg ist die insistente Unangestrengtheit dieser Gedichte, die durchaus zwar geordnet in Zyklen und Abteilungen daherkommen, doch stets ohne eitel-forcierten Drang zur Geschlossenheit. Stattdessen bleibt Küchenmeisters Lyrik tendenziell unbestimmt und offen; mehr noch: ihre poetischen Miniaturen erlauben es, den eigenen Erfahrungsschatz einzubringen, um ihn mit den evozierten Bildern der Gedichte zu verzahnen. Da es gerade die leuchtenden poetischen Details sind, die solche Synthesen von Literatur und Leben erlauben, erscheint nur stimmig, dass Küchenmeister dem Zyklus „im mittelfellraum“ ein Motto voranstellt, das aus dem Songtext zu „Devil in the Details“ von Bright Eyes a.k.a. Conor Oberst stammt. Auf den zehn Seiten des Langgedichts durchquert Küchenmeister in Terzinen – die immer wieder fast wie kleine Treppeneinheiten wirken – ein weites literarisches Feld, das sich zusammensetzt aus einer poetischen Topografie Berlins, Referenzen auf die Pop-Musik, naturwissenschaftlichen Spekulationen über den Urknall und anderem mehr, welches sich schneller Entschlüsselung widersetzt. Und just damit den Sog dieser Verse erzeugt.

Anders als die Prosa mit ihrem sich über Satz um Satz erstreckenden Aufmarsch von Wörtern, ist gerade Lyrik durch die Sparsamkeit ihres sprachlichen Materials prädestiniert dazu, das Leichtwerden, die Levitation, die Emanzipation vom Gewicht der Welt und des Daseins in Worte zu fassen. Dergestalt wie programmatisch im Gedicht „ich bin leicht“, in dem das lyrische Ich sich empfindet als „so leicht, wie man nur sein kann“ – zumal im Vergleich zu Gegenständen wie „hantel, mehlsack // fünfzigtonner“ –, um dann zum zwischen tastender Frage und verwunderter Feststellung oszillierenden Resümee zu gelangen: “bin ich / die leichte hier, bin ich so leicht in mir.“

Die wundervolle Leichtigkeit vieler Gedichte von Küchenmeister erweist sich dabei immer wieder als ein Antidotum zur Melancholie, welche Im Glasberg durchzieht, zumal im letzten Zyklus „finale mitte“, der erkennbar im [Weddinger] Klinikum der Charité angesiedelt ist, und mithin in einem Ort, an dem Krankheit und Heilung, noch einmal Davonkommen oder nie wieder Rauskommen eng miteinander verknüpft sind. Unlängst selber aus einem Krankenhaus entlassen, haben mich insbesondere diese fünf evokativen Gedichte aus je zwölf Versen berührt, erfuhr ich als Patient doch nur allzu genau, „was man bespricht // mit der tapete“ oder weshalb man „im fahrstuhl den atem an[hält]“. Nicht nur aus epidemiologischen Gründen nämlich.

Im Glasberg ist ein Lyrikband, von dem ich mir gewiss bin, dass nicht nur ich darin jene „abgebrochene / antenne“ zu erkennen vermag, die „immer noch nach signalen sucht // an die sich niemand mehr erinnern kann“, denn bei jeder Lektüre der Gedichte von Nadja Küchenmeister ‚funkt‘ einen stets Neues an.



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