LCB

Welche Farbe hat der Schlaf?

Jo Lendle

26_Lendle_Schlaf © privat

© privat

Die Sache ist die: Rotkehlchen sind gar nicht rot. Damit fängt das Problem erst an. Tatsächlich leuchten die Brustfedern des Vogels orange. Als aber der Vogel seinen Namen bekam, waren Orangen hierzulande noch nicht bekannt. Daher besaß die Farbe keinen Namen. Mehr noch: Es gab nicht mal eine Vorstellung von ihr. Sie fehlt auf Gemälden ebenso wie in der Garderobe der Zeit.
Weil das Orange unbekannt war, gab man dem Kehlchen einfach den Namen des nächstliegenden Farbtons: Rot.
Warum, werden Sie fragen, bekam der Vogel nicht den Namen der Farbe, die man durch geschlossene Lider sieht, wenn man in der Sonne einschläft? Wir haben leider nicht für alles, was es gibt, ein Wort. Warum wurde er dann nicht einfach nach der Karotte benannt, die es doch längst gab? Ich kann auch vor dieser Frage nur warnen. Karotten nämlich waren damals noch weiß. Oder violett. Mal gelb, mal sogar schwarz. Jedenfalls nicht karottenfarben – im eigentlichen, fragwürdigen Sinn des Wortes. Es ist nicht leicht, auf einer Welt zu sein, die sich andauernd verändert.

Womit wir beim Schlaf angelangt wären.

Der Schlaf stellt uns eine Frage: Warum schenken wir ihm ein Drittel unseres Daseins? Wer nachliest, wie Menschen aller Zeiten sich dieses Rätsel erklärten, dem wird schnell schwindelig. Anfangs, am Beginn der Geschichte, lässt sich leicht lachen über die Vermutungen. Das Lachen wird leiser, je näher wir der Gegenwart kommen – und feststellen, dass das Geheimnis des Schlafs noch immer nicht gelüftet ist.

Die Alten sagten, im Schlaf verlasse die Seele den Körper und kehre erst am Morgen zurück. Alkmäon vermutete, die Hirn­gefäße würden dabei mit fri­schem Blut ver­sorgt – sobald sie gefüllt sind, erwachen wir. Aristoteles glaubte, nachts stiegen die Dämpfe der Ver­dauung aus dem Magen in den Kopf und erzeugten den Schlaf. Das Mittelalter verwarf wie üblich all diese Gedanken, ohne selbst bessere zu haben. In der Neuzeit kam die Überzeugung auf, beim Hin­­­le­gen drücke das Blut aufs Hirn und rufe den Schlaf hervor. Erkenntnis ist keine stetig ­wach­sende Pflanze. Und jede Zeit malt sich den Schlaf nach Art der gerade herrschenden Mode. Die Theorien im Zeitalter der Industrialisierung waren eine Feier des Mechanischen: Werde das ruhende Gehirn nicht aus­reichend sti­mu­liert, schlafe es eben ein. Als käme, wenn die Kurbel nicht wei­ter­­gedreht werde, das Hirn zum Stehen.
Dann begann das lange zwanzigste Jahrhundert, die Ideen überschlugen sich. In den dreißiger Jahren entwickelte Theodor Stöckmanns die Vorstellung einer Naturzeit: so früh schlafen gehen, dass man bereits vor Mitternacht voller Tatendrang erwacht. Alles weitere sei Luxus und Schlafmast.

Zu früheren Zeiten schliefen die Menschen mit Unterbrechung. Sie erwachten mitten in der Nacht und trafen sich zu einem Getränk, zum Gebet, zum Beischlaf. Anschließend legten sie sich wieder hin. Heute dagegen herrscht das Ideal des ununterbrochenen Einheitsschlafs. Ein Traum der Zivilisation wie Monotheismus und Monogamie.

Was als gesichert gilt: In den tiefsten Stellen des Schlafs, noch unterhalb der Träume, im Zustand vollkommener Bewusstlosigkeit filtern wir die Eindrücke des Tages und bilden daraus unser Selbst. Ein Paradox: Um sein Bewusstsein zu bilden, muss der Mensch bewusstlos werden. Ab der Mitte des Lebens wird diese Schlaftiefe selten, es hat sich ausreichend Bewusstsein gebildet.

Was wir noch wissen:
a) Lebewesen schlafen, seit sie dem Wasser entstiegen sind.
b) Das schlafende Gehirn ist aktiver als das wache.
c) Wenn Rotkehlchenküken nicht schlafen, lernen sie nicht, wer ihre Mutter ist. Sie könnten es wissen, wenn sie die Mutter an der Farbe ihrer Kehle erkennen könnten. Aber sie haben ja keinen Namen dafür. Nicht anders geht es uns. Der Schlaf hat eine Farbe, die es nicht gibt.

 


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von Stoffe: »Eine Art Familie«.

Materialsammlung »Stoffe«

26_Lendle_Schlaf © privat

© privat

360