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Verwandlung

Marica Bodrožić

12_Bodrožić_Verwandlung © privat

Der Wind rauscht. Die Bäume sprechen ihre Sommersprache. Der Sozialismus hat noch Lungenkraft. Ich bin schon so groß, dass mir die Pioniersmütze in Aussicht gestellt wird. Vorne spitz zulaufend und geschmückt mit dem roten Stern. Die will ich haben. Aber ich muss erst noch eingeschult werden. Der Dorffotograf kommt, die Schule, weißleuchtend im flimmernden Licht des Sommers, hebt ab in meinem Blick und wacht auf in der warmen Luft, wacht auf aus ihrem Junischlaf und da stehe ich, bin zugegen mit meiner blauen Uniform und nach Sprache hungrigen Augen. Ich schaue direkt in die Kamera. Ganz schnell ist die Sache erledigt, aber es dauert ewig, bis das Foto entwickelt wird und im sozialistischen Blau, das von der Uniform herrührt und den Raum übernimmt, auf unserem kleinen Küchentisch liegt. Mich gibt es jetzt nicht nur im befremdlichen Spiegel, sondern auch in einem Bild. Die Katzen stromern mir um die Beine. Das Bild gefällt mir nicht. Der Wind rauscht wipfelweise in meinem Gehör. Die Bäume im Borawind arbeiten meinen Gedanken zu. Ich nehme einen Kugelschreiber in die Hand und male mein Gesicht aus, ich will, dass es klarer aussieht, ich will es anders haben als es ist, ich will es verwandeln, es umwandeln, und ich sehe, dass das nicht so leicht ist. Die Bora bezeugt es der Hand. Das Rauschen übernimmt das Denken. Ich bin nicht zufrieden, aber irgendetwas daran spornt mich an, also mache ich weiter. Die mit Kugelschreiber eingeritzten Linien in meinem Gesicht schlängeln sich vielversprechend durch das Bild, das ich bin und nicht sein will. Die vier, fünf Schlangen vor der Tür auf dem Sandberg schlängeln sich auch und richten sich ein. Dann sonnen sie sich in aller Ruhe, sind wohl mit den Wetterverhältnissen zufrieden. Ich schaue durch das Fenster zu ihnen, ihre Körper ergeben Linien von Eigensinn und der Sommer singt. Sie leuchten gefährlich. Mutter schlägt sie alle tot und kommt danach gebieterisch ins Haus, als Schlangentöterin betritt sie die Küche, sieht mich an, sieht das Bild an, den Kugelschreiber in meiner Hand und sagt, das hier wird dich später kummervoll schmerzen, mach die Linien weg aus deinem Gesicht. Sie drückt mir ein Tuch in die Hand und ein Fläschchen mit Benzin, das sie aus der kleinen Schublade herausholt, in der Großvater seine Feigen, seinen Tabak und seine Nüsse versteckt. Wortlos wartet sie ab. Und ich muss die Schlangenlinien aus meinem Gesicht wegwischen, das Gesicht wieder freilegen, es wieder zu sich selbst zurückführen. Das mache ich, unwillig. Ich hole mich ins Bild zurück, bis das Bild wieder es selbst wird, ohne dass ich das bin, was das Bild ist. Mutter sagt, so wirst du dich später besser erinnern können. Sie meint den Tag der Einschulung. Ich erinnere mich sehr genau an den Schulbeginn, an das Licht, das noch im Gedächtnis nachflimmert und nachsingt im rauschenden Sommerwind. Ich erinnere mich auch an den tagelang an meinen Fingerkuppen haftenden Benzingeruch. Ich erinnere mich an mein Bildgesicht, das sich nicht ummalen ließ. Die Augen, noch heute, hungernd nach Sprache. Sprich mit mir, sagen sie. Und im Hintergrund, das lauernde Gedächtnis, das Zischen in der Luft, die Bereitwilligkeit der Mutterhand zuzuschlagen, eine Mutterhand, die tötet, während du lebst und im Gesicht mit einem Stift Wege abgehst, die dich später an deine blauen Kugelschreiber-Schritte erinnern werden, mit denen du versucht hast, deiner eigenen Fremdheit zu entkommen.

 


 

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Dieser »Stoff« ist Teil von »Stoffe: Auf den Punkt wandeln«.

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