LCB

Trouble no more

Max Dax

Und als ich das Radio anschaltete, erkannte ich seinen Ton sofort. Es war das Bassspiel von Charlie Haden inmitten einer Aufnahme von Ornette Coleman. Charlie spielt seinen Bass, als würde er singen. Das gab seinem Spiel etwas Lyrisches, Eigentliches. Im Gespräch, tief nachts um zwei Uhr in seinem Hotelzimmer im Kempinski, das es damals noch gab, vertraute er mir an, dass er als Kind einst an Polio erkrankte. Er überlebte, aber er verlor seine Stimme, die von einem heiseren Flüstern ersetzt wurde. 

Als Kind hatte er gesungen. Er sang im Radio.

Die lokale AM-Station verbreitete seine Stimme über den Äther ein paar Kilometer weit im Umkreis seines Heimatortes Shenandoah, Iowa. 

Immer wenn ich Charlie Haden vermittels seines Bassspiels singen höre, verbreitet sich in mir ein Wärmegefühl. Ich höre den Ton eines Mannes, der durch äußere Umstände gezwungen worden war, seine eigene Frequenz, seine eigene Stimmung, in einem anderen Medium zu finden. Über einen Umweg, über einen Medientransfer, brachte er seine verstummte Stimme zum Klingen.

Wenn wir unseren eigenen Ton gefunden haben, kann jede noch so scheinbar unbedeutende, alltägliche Randnotiz zu einem ureigenen, genuinen Ausdruck innerer Spannungen und Stimmungen werden. 

Ich fahre die Rolltreppe hinauf zum MediaMarkt in den Neuköllner Arkaden, dem in den Augen vieler hässlichsten Gebäude Berlins. Aber in meinem Kopf höre ich »FREE JAZZ–Part 2« von und mit Ornette Coleman, Eric Dolphy, Don Cherry, Freddie Hubbard, Scott LaFaro, Charlie Haden, Billy Higgins und Ed Blackwell. Das besondere an dieser Stereoaufnahme ist, dass Charlie Haden auf dem rechten Kanal zu hören ist, während Scott LaFaro auf dem linken Bass spielt. Jede Position ist in diesem Geist doppelt besetzt. Nicht von ungefähr lautet der volle Titel des Albums »Free Jazz – A Collective Improvisation by the Ornette Coleman Double Quartet«.

Ich fahre die Rolltreppe hinauf zum MediaMarkt, und mir schießt es durch den Kopf, dass ich es damals verpasst hatte, Ornette Coleman um ein Gespräch zu bitten. Ich weiß noch: Ich dachte, Ornette würde ewig leben. Ich könnte ihn beim nächsten Mal treffen.

Dazu kam es nicht. Anders als Charlie Haden, den ich um zwei Uhr nachts im Kempinski, mit Blick auf den Kurfürstendamm, fragen konnte, warum ich seinen Ton aus jeder Aufnahme, und sei sein Spiel auch noch so versteckt im rechten Kanal einer experimentalen Stereoaufnahme, heraushören kann, begegneten Ornette Coleman und ich uns nie persönlich.

Im MediaMarkt kaufe ich mir ein Coffeetable-Vinylexemplar der Neuauflage von »Free Jazz«. Ich klappe die Innenhülle der Schallplatte auf, und ein Gemälde, »White Light«, von Jackson Pollock kommt zum Vorschein. Auch einen Pollock erkennt man auf den ersten Blick. Diedrich Diederichsen hatte mir vor vielen Jahren bei einem hellen Bier im Restaurant Austria in der Bergmannstraße erklärt, dass Pollock das »endlose« Bild erfunden habe – das Gemälde, dessen Ränder das Bild nicht begrenzen, sondern die Illusion bedienen, das Bild sei aus einem viel größeren, gefühlt endlosen Bild »herausgeschnitten« worden. 

Hat man seinen Ton gefunden, wird alles zu Stoff.

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