LCB

Ton

Benjamin Radjaipour

Ton © Benjamin Radjaipour

Ton © Benjamin Radjaipour

Ich schaue in den Spiegel und bin nicht beunruhigt, denn ich sehe nur Fragmente. Das heimliche Treffen gestern war besser als erwartet, aber irgendetwas in mir ist gestorben. Jetzt bin ich grau, ich bin kalt. Ein Stein. Wirklich. Die letzten Tage waren schwierig. Aus dem Loch der Hoffnungslosigkeit herauszutreten kostet gerade mehr als Yoga, also fange ich es erst gar nicht an. Meine Seelenorgane, die Haut und mein Magen, geben mir Dinge zu verstehen, die ich einzuordnen weiß (aber nicht verstehe). Ich spüre keine Euphorie für meinen Körper, meine Vorhaben. Und ich sehe sie auch nicht in der Entfernung. Darin bin ich eigentlich gut, Entfernung spüren, durchhalten. Mir fällt auf, dass die letzten Minuten Zeitraffer waren. Ich verkrampfe beim Schreiben und will geschlagen werden. Ich wäge kurz ab, ob ich es selber tue. Ich finde das peinlich. Und geil. Dass ich das entscheiden kann. Zeitraffer, erlebe ich diesen Tag gerade oder erinnere ich ihn und wir sind schon weiter in der Woche? In einem apathischen Wechsel aus Stehen und Gang durch Küche und Schlafzimmer singe ich den Drunk in Love-Run, dem Beyoncé in diesem Hotel in Dubai ein Debüt geschenkt hat. Warum dort, in diesem Hotel? Überall Kritik und Diskurs. Ich will mich auch kurz aufregen – dafür ist immer Zeit– und dann merke ich was. In mir schließt sich ein Schaltkreis oder so: Der Ton im Kehlkopf trägt etwas weiches aus meinen Gedanken in meine Nebenhöhlen, meine Stirn, es kitzelt im Kopf und ich erinnere mich an Gegenwart und Leben. Und dass ich in einer tektonischen Spannung wachse und es okay ist nicht zu beben. Und dass das kommt. Und ich werde tiefer in dieses Loch (vom Anfang hier) steigen müssen und diese Kreatur finden (die ich bin) und ich werde sie aufspießen und mir unterwürfig machen und sie lieben und dann pflegen und sie zu heraufbeschwören wissen, bald, wenn nötig, gegen neue Bedrohungen. Aber nicht jetzt. Jetzt halte ich kurz an, entschleunige den Raffer und schmunzle über den Gesang.


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Enjoy dich im Casino, Schatz!«, mit Jovana Reisinger, Sara Geisler, Roshanak Khodabakhsh, Benjamin Radjaipour und Diana Weis am 02. Februar 2023.

Materialsammlung »Stoffe«

Ton © Benjamin Radjaipour

Ton © Benjamin Radjaipour

360