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Momentaufnahme

Sandra Gugić

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Ich gehe von Bildern aus. Fotonotizen, Momentaufnahmen, Screenshots. Einen Moment festhalten, aus dem Zusammenhang nehmen, anderswo einfügen. Wenn ich schreibe, folgen mir die im Entstehen begriffene Geschichte und ihre Figuren überallhin, flüstern Codes, legen Fährten, meine Umgebung, mein Alltag scheint dauernd auf sie zu verweisen.

In meinem Roman „Zorn und Stille“ setzt sich die Erinnerung der Hauptfigur Billy ganz langsam zusammen, „wie ein Motiv beim Entwickeln eines Abzugs“, schreibt Saskia Trebing.1„Roland Barthes schrieb, dass in der Fotografie immer der Tod lauert. In „Zorn und Stille“ stehen Bilder für das, was unsagbar ist. Für Verlorenes und Vergangenes, aber auch für die Möglichkeit eines neuen Lebens.“ Im ersten Kapitel zählt Billy die Bilder des Tages, die sie nicht fotografiert hat.

Beim Schreiben befrage ich auch ein Stück weit meine eigene Geschichte und Erinnerung. Wenn ich einen Text beginne, frage ich mich jedes Mal, wo setzt die Geschichte an: beim Privaten, beim Politischen, bei der Sprache? Kann ich mich im Schreiben und durch die Bilder der sozialen und subjektiven Wirklichkeit der Gegenwart und der Vergangenheit annähern? Kann ich mein vergangenes Ich als ein anderes betrachten? Sind Wiederholung und Erinnerung gleiche Bewegungen, in verschiedene Richtungen auseinanderstrebend? Ich denke nach über die Macht, die Deutungshoheit der Bilder. „To photograph is to frame and to frame is to exclude“, schreibt Susan Sontag in „Regarding the pain of others“. Ich denke nach über Erinnerungserzählung als gesellschaftliche und politische Analyse. Wie diese gelingen kann, ohne dabei erklärend zu werden, sondern ganz in der Geschichte zu bleiben und in vermeintlich Nebensächlichem die Erfahrung der Figuren nachvollziehbar werden zu lassen.

„Ich musste 80 werden, um das schreiben zu können“, sagt Helga Schubert.2Meine ganze Erinnerung besteht aus Bildern, meine Erzählungen auch.“ Für ihren Text habe sie Hunderte biografische Seiten kondensiert. Der Begriff Autosoziobiographie kommt mir in den Sinn, Annie Ernaux verwendet ihn – eine politische Textsorte, die sich einem Gegenstand nur im Rückblick, in zeitlicher Distanz annähern kann. Ihre experimentelle Biografie „Les anées“ / „Die Jahre“ wird durch Beschreibungen von Fotos strukturiert, die Bilder stimmen Zeitabschnitte an, denen wieder Erinnerungen zugeordnet werden.

Ich sichte die Aufnahmen der letzten Monate, wie meine Erinnerungen. Ich denke über die Bilder nach, die ich nicht aufgeschrieben habe. Dann schreibe ich.

 

1 siehe Monopol Magazin, Sept 2020
2 im Gespräch über ihren mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis prämierten Text, 2020

 


 

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Dieser »Stoff« ist Teil von Stoffe #2.

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