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Livestream

Kathrin Röggla

Spritz Jubiläum

Über das alte Aussehen der Livetickers

Now ist the time. Bleiben wir im Jetzt. Das Jetzt bewegt sich heutzutage vorwärts, es ruckelt dabei noch etwas, aber sieht im Grunde immer gleich aus. Mit dem elften September hat das angefangen. Plötzlich musste immer alles gerade passiert sein oder am besten erst passieren – let’s update! Der elfte September, dieses einzige Ereignis, das mit seiner Datumsangabe hinreichend benannt ist, wurde insofern das erste Medien-Ereignis, das sowas wie den Liveticker dahin gebracht hat, wo er heute sitzt, im Herzen der Medien. Er ist Ausdruck einer herrschenden und gleichermaßen festgelegten Gegenwart, die formal damals aus dem ständigen Update bestand, und das in vergleichsweise traditionellen audiovisuellen Medien, dem Fernsehen, dem Radio. Heute, wo wir uns ja lange genug mitten in einer Pandemie befinden, ist es zum ständigen Liveticker in den Online-Medien mit den unterschiedlichsten Formaten geworden, die uns die Welt erzählen. Im steten Wechsel unterschiedlicher nationaler Verlautbarungen, die uns die Entwicklungsstände in den anderen Staaten preisgeben, supranationaler Pressekonferenzen der WHO, oder des Robert Koch-Institutes, der Ministerkonferenz der Länder, verstehen wir eins: Da spielt die Musi, die wir hier so vergeblich suchen. Wir sind außen vor, die richtige Gegenwart, die mehr aus Gegenwartsmarkierungen besteht, kann behaupten, wirklich drin zu sein, im beschränkten Raum des Jetzt, an das wir nie wirklich präsentisch rankommen. Echte Gegenwartspräsenz ist heute immer eine Verbindung von dargebrachter Gegenwart und sich vollziehender Gegenwart. Nur, was auf der Bühne stattfinden kann, findet wirklich statt. Und richtig, von diesem Ort kommt nichts, findet nichts den Weg raus.

Was ist das für ein Jetzt, welches derart unoffen ist? Das kann doch nicht jenes sein, das literarisch interessiert? Sieht es nicht unendlich alt aus? Die Frage ist aber auch umgekehrt, kann man sich dem vollständig entziehen? Und was macht heute erzählte Gegenwart aus? »Abfall für alle«, wir erinnern uns an jenes Buch von Rainald Goetz aus den späten Neunzigern (waren die Neunziger nicht alle spät?) – „Abfall für alle“ mit seinem additiven Prinzip funktioniert nicht mehr. Blasenwirtschaft aber auch nicht. Also das Leben der eigenen Clique als gegenwärtiger zu behaupten als das der anderen. Unter dem Motto: Wir sind die Gegenwart, ihr nicht. Es wäre eine Behauptung der Coolness, des Hipstertums, früher einmal des Dandys, die gleichzeitig gegen ein Gegenwartskonzept des Mainstreams steht, dieses ausstreicht, negiert. Subversiv gegenwärtig zu sein, dem bürgerlichen Zwang ein Schnippchen schlagen, der neoliberalen Zeitmaschine, die ständig an die Mehrwertsteigerung denkt, ist nur noch als Pose des Rentiers möglich, oder im radikalen Rückzug, der kaum Öffentlichkeit mehr kennt. ›Kairos‹, der offene Augenblick der Entscheidung, der stets auch Untergang bedeuten kann, müsste allerdings für alle denkbar sein, nicht nur für einen selbst. Es stellt sich die Frage, wie diesem ökonomisch kodierten Gegenwartsknast zu entkommen ist?

Es gibt ja Bestrebungen, seine eigene Gegenwart im post-bürgerlichen Gestus zu finden, in Autofiktionalität die Parallelität von eigenem Leben und anderen Lebens- und Denkformen im Essayhaften, Nichtkohärenten zu suchen, wie Lola Randl oder Wolfram Lotz oder ganz anders Felicia Zeller das gegenwärtig machen, den Literatur- und Kunstbegriff aufzubrechen, die eigene Faulheit, Beschädigtheit und Ambivalenz mitten hinein zu nehmen und alles Mögliche zu unternehmen vom Restaurantbetrieb, über die Landkommune, bis hin zu Künstlerkollektiven. Von größenwahnsinnigen Buchprojekten, über Pseudoserien auf Trashniveau, zur low art in den Kunstkontext geschleust, bis zur uralten zentralen Intelligenzagentur. Das sind die unterschiedlichen Antworten von Künstler·innen, und manchmal finden sie sogar politisiert in Klimacamps und aktivistischen Positionen statt, und sie faszinieren mich.

Wenn ich allerdings in der Vogelperspektive auf unseren lieben Literaturbetrieb blicke, nehme ich gewisse akzelerationistische Versuche, schneller als die Welt zu sein und als erster anzukommen, aber auch slowlive-Bewegungen, alles herunterzubremsen, nur wie Spielarten eines Livestyles wahr. Texte, die mit modischen Buzzwords und Hashtags bestückt sind, wirken schnell als nicht ernst zu nehmen. Meist haben diese mit Identitätspolitik zu tun und markieren Jugendlichkeit, also Jugend, die ihre Revolution auf diesem Feld macht. Und das ist das Kernthema im Kunstbetrieb, das Neue kommt vom Jungen, und das Junge ist der neueste heißeste Scheiß, auf den der Theaterbetrieb und einen Tick weniger das Verlagswesen aus sind. Die reinste Tautologie. Wie gut, dass wir heute nicht in der Vogelperspektive auf den Literatur- und Theaterbetrieb sehen müssen und etwa sagen: Jemand, der zwei Saisonen da war, ist schon nicht mehr jung, und in der vierten Saison sozusagen altersunabhängig alt oder gar Schnee von gestern. Wir können hier Abstand nehmen von diesem Verdauungsorgan, das Künstler·innen gierig frisst und wieder ausspuckt. Wir müssen nicht einmal sagen, vielleicht ändert sich da auch gerade etwas?

Was sich gegenwärtig nicht ändert, ist die themenabhängige Juryarbeit. Die Schleusen der Geldvermittlung. Modische Themen – im Moment z. B. Kolonialismus, Klimakrise, Künstliche Intelligenz – die drei Ks sind angesagt und erhöhen die Aussichten auf ein Stipendium. Natürlich sind es relevante Fragen der Zeit, ohne Zweifel, nur sie sind in der realen Welt stets verbunden. Sie als Thema in Texte einzuführen, bedeutet auch, sich auf den Irrweg zu begeben, dass sich unter einer Unterschrift ein schon vorkartographiertes Feld finden wird.  Es ist ja schon ein veritabler Fehler der politischen Rhetorik Kolonialismus, Klimakrise und KI als Einzelthemen zu behandeln.

Schreiben ist Arbeit mit Kontexten, mit verschiedenen Sprachen, auch in verschiedenen Sprachen, mit verbundenen Problematiken und Feldern, es ist niemals auf die eine Schlagzeile zu bringen, nur dann ist es interessant. Aber es kann nicht so tun, als wäre der Immediatismus, der habituelle Hang zur Plötzlichkeit – denken Sie an die vielen Menschen über ihre Handies gebeugt, immer im sozialen Jetzt – nicht auch der derzeitige Boden unserer Aufmerksamkeitsstruktur.

Den Begriff des Zeitgeists gibt es nicht mehr, das ist ein Wort aus den 80ern, ein zurückgelassenes Wort unter vielen zurückgelassenen Wörtern. Wenn es heute heißt, dass man sich permanent zu Wort melden muss, via Twitter, Snapchat, TikTok, dann hat das was vom Militärischen Rapport in sich, aber auch von der Haltung ›Kopf über Wasser‹. Es wird derzeit ohnehin viel geschwommen. Und natürlich gilt auch hier die Regel von der Netzwerkbildung, die auch im Wasser alles einfacher macht. Nur – und hier klingt doch der Gedanke des Zeitgeists in seiner Oberflächlichkeit an – geht mich noch etwas jenseits des Netzwerks was an? Was wäre gesellschaftlich, diskursiv unser common ground, auf den sich jegliche Kritik beziehen würde, die wir schon für die Produktion unserer Texte nötig haben? Ja, was hält diese Gesellschaft zusammen, im Hier und Jetzt, jenseits dieser medialen Verschraubung? Und können wir auf diesen Gedanken wirklich verzichten, wie oft genug behauptet wird?

 


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »Stoffe: Zeitgeist« zum 60. Geburtstag der Zeitschrift »Sprache im technischen Zeitalter«.

Materialsammlung »Stoffe«

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