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Leipzig / Komet

Martina Hefter

17_Hefter_Komet © privat

Nicht gerade der neueste Stoff: Leipzig. Leipzig, mit diesem Riesenschweif an Geschichte, der an der Stadt dranhängt. Leipzig, ein Komet, zieht seine Bahnen, kommt mir nah, wird sich auch wieder entfernen. Oder ich mich. Ist aber immer da.

Kometen, auch ein toller Stoff. Kometen sind eins A Projektionsflächen – Projektionsklumpen besser – für Aberglauben und mystische Erklärungsmodelle. Kometen, die alten Unglücksboten. Seltener wird ihr Auftauchen als gutes Omen gedeutet, dann weisen sie auf ein riesiges, tolles Ereignis hin.

Im Frühjahr 1997 stand Hale-Bopp am Himmel der nördlichen Erdhalbkugel. Hell leuchtend, mit einem riesigen Schweif – eigentlich waren es drei, ein Gas- ein Staub- und ein Natriumschweif. Damals wohnte ich gerade wieder im Allgäu, nachts fuhr ich mit Freundinnen und Freunden mit dem Auto übers Land in Bars oder Clubs. Wir sprachen wenig unterwegs, schauten mehr zum Fenster raus. Hale-Bopp, immer neben uns. Zwar waren wir im Gebirge, fernab jeder größeren Stadt, seit jeher mit einem tiefen und klaren Sternenhimmel gesegnet. Wir waren die Wucht des Universums gewöhnt, aber Hale-Bopp stellte alle unsere bisherigen Betrachtungen und Gefühle diesbezüglich in den Schatten. Wie er über den Bergen und Wäldern stand, für uns unten ein Stillstehen, während er da oben rasend schnell durch das schoss, was wir so lieb Weltraum nennen.

Kurz nachdem Hale-Bopp verschwand, im Mai 1997, schrieb ich meine Bewerbung fürs Literaturinstitut Leipzig. Vielleicht war es Hale-Bopp, der mir klar gemacht hatte, dass ich wieder aus dem Allgäu wegziehen muss. Während der Autofahrten hatte ich das eigentlich schon geahnt. Wie soll man auch nicht sein Leben ändern wollen, wenn wochenlang ein Komet am Himmel steht, der ein tausendmal höheres astro-philosophisches und astro-romantisches Potential besitzt als der Mond. Leipzig dann, im Herbst 1997, war für mich ähnlich fremdartig und geheimnisvoll wie Hale-Bopp. Nur, dass ich mitten drin war in diesem Gebilde, mit ihm in seiner Umlaufbahn reiste und seine ganze lange Geschichte, die Wucht historischer Ereignisse als lautes Echo oder Druck auf den Ohren wahrnahm. Klar, dass mein erster Roman von meiner Ankunft in Leipzig erzählte, als die Wende noch gar nicht so lange zurück lag.

Hale-Bopp wird um das Jahr 4419 wieder an unserem nördlichen Himmel auftauchen. Da mich der Gedanke an Wiedergeburt tröstet, habe ich beschlossen, da auch gerade wieder auf der Erde zu sein. Wenn möglich, als Mensch, als erwachsener Mensch. Dann werde ich diesen hübschen Kometen wieder ein paar Wochen lang betrachten. Und Leipzig? Mit seinem Auwald, Elsterflutbecken und Cossi, der Karl-Heine-Straße, dem Uniriesen, dem Palmengarten und vielem mehr, wird es ein Ort aus der Antike sein, Hauptschauplatz einer berühmten Sagensammlung. Ein Komet, wird es darin heißen, habe die Stadt am Ende zerstört und die per Zoom-Live-Beaming evakuierten Bewohner*innen hätten sie nicht wieder aufbauen wollen, weil man eine einmalige Stadt wie Leipzig eben nicht wieder aufbauen könne. Was vielleicht stimmt. Und ich? Ich werde als Astrophysikerin in den Bergen leben und in meiner Freizeit die Leipziger Sagen lesen.

 


 

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Dieser »Stoff« ist Teil von »Stoffe: Eukalyptische Mörtelkometen«.

Materialsammlung »Stoffe«

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