hände

mit den händen arbeiten, da denken leute oft ans nähen, ans putzen, ans bauen, ans malen, ans manikürieren, ans operieren, ans regale einsortieren. selten ans schreiben. dabei ist es egal, ob mit einem stift auf papier, mit den fingern am handydisplay oder über der tastatur, ohne die hände wird es schwer. aber nicht unmöglich, siehe diktierfunktion.

als sich nach einem fahrradunfall mein handgelenk verstauchte, war ich einige tage beim schreiben gehindert. der einzige zeitpunkt, an dem ich nicht arbeiten kann, ist, wenn ich im nagelstudio sitze und meine hände ruhen müssen. zwar kann ich noch nachdenken oder über kopfhörer telefonieren oder einen podcast hören, aber es ist zu unruhig und ich möchte ansprechbar bleiben. präsent bleiben. das ist manchmal das gegenteil vom schreiben.

auf meiner rechten hand steht: lucky. obwohl ich das tattoo schon einige monate habe, bin ich immer noch unsicher, was ich damit meine. bin ich lucky? wünsche ich mir selbst glück bei allem, was ich mit dieser hand ausführe? oder mache ich andere mit dieser hand lucky? eine kleine hand mit langen gelnägeln und ein paar tattoos: this is where the magic happens.

antifa bleibt handarbeit. schreiben kann auch antifaschismus sein. viele antifaschist_innen haben geschrieben. einige tun es weiterhin. wir müssen uns schließlich nicht nur auf der straße wehren, sondern auch auf papier und online und in den archiven, in denen wir uns verewigen, solange sie nicht zerstört werden.

seit ich meine fingernägel lang und bemalt trage, schaue ich beim tippen viel lieber auf meine hände, manchmal erkenne ich in ihnen etwas cyborgartiges. den sound von langen acrylnägeln auf der tastatur hat dolly parton in den beat ihrer arbeiter_innen-hymne „9 to 5“ gesampelt. obwohl ich nicht 9 to 5 am schreibtisch sitze, bleibe ich vor der tristesse nicht verschont. die nail art bringt das bunte, das schöne, das unnütze in meinen alltag, und daraus schöpfe ich kraft, kreativität und freude. ich schöpfe auch aus wut, trauer oder angst, und dafür gibt es auf dieser welt jeden anlass, doch genauso wichtig für meine arbeit sind genuss, unbeschwertheit und begehren. wie oft habe ich mit glühenden wangen hastig notizen aufgeschrieben?

die hamsa, vielen bekannt als die hand der fatima, ist mit dem großen auge auf der handfläche ein zeichen des schutzes gegen den bösen blick und dschinns, wobei letztere nicht per se gefährlich sind. die geste wehrt ab, sie kann ein stoppzeichen sein oder ein schubser oder frieden signalisieren, meistens jedoch ist das symbol ein kitschiger talisman, dessen wirksamkeit umstritten ist. doch gegen manche gefahren können auch jene hände nichts anrichten, die selbstverteidigung beherrschen, und doppelt hält besser, also schmeißt man die mitgebrachten hamsa-anhänger lieber nicht weg, falls man sich doch mal von fatimas hand berühren lassen will. so sinnlich, wie diese formulierung es anmuten mag, ist das prozedere meist nicht. fatimas hand fühlt sich auf meiner haut kalt, metallisch und reglos an.

lesbian hands sind zu einem popkulturphänomen verkommen, dabei ist ihre definition umstritten, manche sagen, sie seien vor allem weich, andere legen wert auf lange finger oder spuren von handwerklicher begabung. schreiben ist auch ein handwerk, aber das ist nicht gemeint. dann gibt noch die theorie über eine einheitliche form, aber das würde bedeutet, queerness sei biologisch erklärbar, dabei ist queerness auch die überwindung biologistischer zuschreibungen. lange nägel kommen in der regel nicht in der aufzählung der attribute lesbischer hände vor, trotzdem gehören sie dazu, denn ich habe hände und lange nägel und bin lesbe, also habe ich lesbische hände, sie sind nicht groß, aber sie können großes bewirken, zum beispiel bücher oder liebesbriefe oder eine quiche oder weed-pfeifen aus keramik oder verrisse oder ganze wasserfälle.

oft wollen leute wissen, ob ich eigentlich mit langen nägeln alles machen kann, sie formulieren es allgemein, aber wir wissen alle, worauf sie hinauswollen. ich bejahe und sage, dass alles möglich sei, ja, wirklich alles, es komme nur auf den winkel an. das tut es doch immer, denke ich, während ich erst auf meine finger schiele und dann ihren blick erwidere.

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »DYKE DOGS Literatur Salon«, kuratiert von Eva Tepest und Lynn Takeo Musiol, mit Duygu Ağal, Magda Albrecht, Kaśka Bryla, Samantha Bohatsch, Karen-Susan Fessel, Franziska Gänsler, Anna Hetzer, Selma Matter, Ronya Othmann, Marie Lucienne Verse, Hengameh Yaghoobifarah und Derya Yıldırım, am 15. September 2022.

Materialsammlung »Stoffe«