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H2O

Robert Stripling

H2O © Robert Stripling

H2O © Robert Stripling

stoff – ein wort das reindröhnt. geht es um sprache noch? nie wirklich bin ich davon abgekommen zu empfinden, dass wörter seelen besitzen. wo sie sitzen? womöglich gar in den buchstaben; sie sitzen fluid, ›flirren‹ auf asphaltstraßen; ›steigen‹ aus kraftwerken; FLIMMERN; sie kommen auf und gehen dahin, verstehen den aufenthalt in der sprache als vorübergehenden (bereits vorübergegangenen) – vergänglichen, werden angeschwemmt, mit – fort. nur zufällig als im medium der sprache anwesende moleküle? wörter, wie flüchtige anordnungen, abseits von inhalt und form, allein, dass sie dröhnen?

es ist still in der sprache. ich bin es, der offensteht. ein stoff, der in den händen zerrinnt, den aggregatzustand ändert, von eis zu dampf – wasser. das bescheuerte der literatur : etwas festhalten. einen moment, eine erinnerung, gedanken. bilder gar, kindische. behämmert wie unbelehrbare – nichts hat man in der hand damit, dass es geschrieben steht, nixe! doch es steht. steht es? fällt es nicht vielmehr? ein wasserfall, ein fall von wasser – die felle wegschwimmen sehen, wessen felle – die grammatischen? selbst teil dieses stroms?

dessen war ich mir immer irgendwo bewusst : man knallt das erstmal so dahin, tackert dran rum, näht, strickt um, schneidet weg; aber ein stoff, der fließt? muss ich kälter sein, dass er gefriert? dampf steigt auf, ein paar worte kondensieren am fenster, sie schauen mich an. ich selbst bin das objekt und werde formuliert?

allem fall zum trotz, der grammatik, sich aufbäumen, dem grammatischen nachlauschen; aufbäumen SICH gegen trotzigen verlust aller worte, aller werte – wer weiß noch, was hält, was es verspricht. ich verspreche mich – und habe mich also ›versprochen‹?
dies alles ist kein spiel. wasser spielt mit sich selbst, tollt oder ›tobt‹ im wellengang. es besitzt eine vergangenheit, kein ziel außer meer, der ozean. ich bin es, der gegenhält, gegenzuhalten hat; dem unförmigen form zu geben probiert und sei es dadurch, es unförmig zu lassen, wenn es als solches interessant erscheint? auch in wilderen gewässern, nautisch also, muss tauchen, wenn ich schreibe, die luft nicht verlieren (den atem also, den sauerstoff); verdauen, dass es so weitergeht. die zeit ›verläuft‹, aber was, wohin; schreiben als flow – deshalb H2O? ich selbst bin aus wasser?

dies alles sind zeitlose bemerkungen, natürlich. könnte sein, allen zeiten gemäß, nicht? doch die gegenwart? hat sie noch anteil an diesem alten rauschen? was ist das schreiben?
es ist das ungesagte. warum sonst sollte ich es hinschreiben? dass es dafür natürlich gründe gibt, die aus dem inneren kommen, einer weiteren seele, aufgesperrt, aufgespannt. manchmal habe ich angst, die quelle würde versiegen.

hinter die zeit blicken und hinter der gegenwart etwas erkennen, dass älter ist, alterslos. älter als was? abgenabelt von jener historischen spur, die aufs menschliche verweist? nein, gegenteilig, endlich – es knüpft wieder an, in verbindungslosen zeiten, an den gegenwärtigen tag? stoff zu SEIN, selbst eingebunden ins historisch gewordene. ins wasser zurück, die meere?
nicht ganz zu verstummen in der not, in der man liebt, wie ein hund. ein stoff, der an zukunft verliert; ein stoff, um den noch kommende kriege werden geführt werden? dass es immer unnützer wird, zu schreiben – immer nützlicher? auf diesem wasser gebaut; in gewalten verharren, ja, wassermassen, es strömt nur dahin, einen anker setzen, einen pfahl; selbst sein, der kiesel, der durchs flussbett kullert. und doch zumindest damit : bestand!



Woraus besteht die Gegenwartsliteratur?
Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von Stoffe: »Heilige Schrift I« und »Unter Stunden« mit Wolfram Lotz und Robert Stripling am 5. Oktober 2022.

Materialsammlung »Stoffe«

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