LCB

Großzügigkeit

Mazlum Nergiz

© Tobias Bohm

Er hat mich gebeten, ihn auf Knien zu empfangen. Ich ziehe die dichten Vorhänge zu. Ich warte auf ihn. Er schreibt mir, dass er da ist, ich lasse ihn herein, die Wohnungstür leicht angelehnt, renne zurück in mein Zimmer und knie mich wieder hin. Ich umwickle meine Augen mit einem schwarzen T-Shirt. Öffne meinen Mund. Er tritt ein und sagt, dass er unbedingt auf die Toilette müsse. Irritiert entwickele ich meine dilettantische Augenbinde und versuche, ihm nicht in die Augen zu gucken. Ich bringe ihn zur Toilette, und knie mich wieder hin. Er ist noch immer nicht zurück. Ich nehme die Augenbinde ab, ziehe mich wieder an und setze mich auf’s Bett. Er kommt ins Zimmer. Seine Körperhaltung: unkoordiniert. Ich spekuliere auf GHB. Ich bitte ihn, zu gehen.

— warum du willst dass ich deinen Mund ficke jetzt bin ich hier
— du kommst nicht mehr klar
— doch
— was hast du genommen
— nichts
— du kannst nicht mehr stehen
— wie heißt du
— bitte keine namen
— kann ich dich berühren
— nein du schwitzt wie ein schwein
— du bist so schön
— geh bitte
— komm zu mir zieh dich aus berühr mich
— zieh dich an und geh
— ich will deine lippen auf meinem schwanz fühlen
— hau ab
— ich hab gerade erst GHB genommen
— das sehe ich
— nur fünf minuten ok bis es wieder nachlässt ich es knallt gerade total rein
— wieso sagst du nichts
— ich wollte es eigentlich zuhause nehmen habs vergessen…ich hab noch was falls du willst
— nein danke
— ich glaube es war zu viel
— was
— komm küss mich
— kannst du bitte gehen…jetzt
— ich will dich du bist so süß und schlau
— hör auf
— ich will dich in meinen armen…meine augen schließen für einen moment
— wie kommst du auf die idee dich in einer fremden wohnung mit gbh abzuschießen wer macht sowas
— du bist…besonders
— tschüss
— nein

Ich will nicht, dass er in meiner Wohnung stirbt. Ich hoffe, dass er in seinem Zustand genug Lärm im Treppenhaus macht, bis ein Nachbar genervt die Tür öffnet, ihn sieht und dann den Krankenwagen ruft. Ich lege mich auf den Boden. Die zwei Bücherregale in meinem Zimmer glühen weiß, erdrückend. Ich höre ihn keuchen und schreien. Er stolpert die Treppen runter. Ich warte. Mein Körper beruhigt sich. Es wird still. Ich höre, wie jemand unten die Eingangstür öffnet und ihn beschimpft. Die Bäume vor dem Fenster werfen ihre Silhouetten auf die Wand. Sie sehen aus wie Surfer, die versuchen, über der Welle zu bleiben. Ich kann die treibenden Figuren nur aus meinen Augenwinkeln erkennen. Wenn ich direkt hinschaue, tauchen sie unter.

Ich schließe meine Augen. Ich denke an diesen Menschen, und warte darauf, dass sich seine Konturen verfestigen. Ich will den entsetzten Ausdruck lesen, den sein Gesicht angenommen hat, als ich ihn aus der Wohnung geworfen habe.

Wenn es stimmt, dass Lust immer mit Großzügigkeit verbunden ist—heute bin ich nicht großzügig gewesen. Eher betäubt. Chloroformiert. So direkt der Taubheit eines anderen ausgesetzt zu sein, lässt mich meine eigene umso mehr spüren, und ich bin noch nicht bereit, von ihr so schnell heimgesucht zu werden. Unfähigkeit, den Schmerz einer anderen Person zu ertragen.

 


 

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Dieser ›Stoff‹ ist Teil von »komm in den totgesagten park und schau: Cruising als kulturelle Praxis«.

Materialsammlung »Stoffe«

© Tobias Bohm

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