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Ferne

Lucy Fricke

Ferne © Lucy Fricke

Es ist immer die Ferne, ein Ort, weit weg von meinem Arbeitszimmer, wo das Denken beginnt. In dem Unbekannten werde ich frei. Die Gedanken verlieren die Kontrolle, den Halt, die Sicherheit. Als bräuchte ich die Bewegung, um Ideen loszutreten. Als bräuchte ich fremde Länder, um die Neugier zu aktivieren. Als würde ich schärfer sehen, wenn mir nichts vertraut ist. Sogar auf mich selbst blicke ich klarer. Den Koffer packen und die Filter zuhause lassen, die dicke Haut. Kein Schutz mehr, einfach so in die Welt fallen.

Ich liebe die Zeit des noch-nicht-Schreibens, die Notizbuch-Phase, in der jeder Gedanke einen zweiten wert ist. Rumsitzen und zuhören. Rumfahren und nachdenken. Rumliegen und dabei größenwahnsinnig werden. Vor jedem neuen Roman möchte ich monatelang nichts anderes tun. Denn jedes Buch beschäftigt mich am Ende drei, vier, manchmal fünf Jahre lang. Die Entscheidung für ein Thema und eine Geschichte ist keine geringe. Die Entscheidung muss, wie man so sagt, tragfähig sein. Sie muss den Roman und vor allem mich über Jahre tragen, durch Krisen, Zweifel und das Gefühl der Sinnlosigkeit hinweg. Sie muss mich wachhalten, sie muss mich auch auf Seite 200 und nach achtzehn Monaten am Schreibtisch noch interessieren, faszinieren am besten. Die Neugier auf den eigenen Stoff darf mir nicht abhandenkommen, die Freude an den Figuren, die zu engen Freunden, aber auch zu den schärfsten Kritikern werden, darf ich nicht verlieren.

Die Idee und ich, wir müssen uns auch zuhause noch mögen, ganz allein im Arbeitszimmer, wenn die Ferne längst Erinnerung geworden ist, einzig im Kopf noch leuchten kann und leuchten muss.


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von Stoffe: »Die Diplomatin« und »Eine Liebe in Pjöngjang«, Lesung und Gespräch mit Lucy Fricke und Andreas Stichmann am 12. Juli 2022.

Materialsammlung »Stoffe«

Ferne © Lucy Fricke

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