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Fell

Jayrôme C. Robinet

Fell

Ein Philosoph steht nackt vor seiner Katze und schämt sich. Nackt vor dem prüfenden Blick seiner Katze steht er da. Jacques Derrida. Dafür, dass er sich schämt, schämt er sich auch. Das Tier ist nackter als der Mensch, der nackter ist als das Tier.
Und schon sind wir gefangen in dem immensen Rätsel der Haare, des Fells, des Pelzes und der Haut.

Streicheln kraulen kuscheln. Schmuseattacke! Wer sagt, Glück könne man nicht anfassen, hat noch niemals eine Katze gestreichelt – Kalenderspruch des Tages.

Die Katze rekelt sich im Lichtbad. Das Fell bei Gewitter, Silvesterknaller & Co. zittert an mich gedrückt. If I have a cat, my cat has a human, hätte Donna Haraway schreiben können.

Haararm, Mensch.

Ob Fell oder Pelz, spärlicher Wuchs, dicht oder dick – Was ist der Unterschied?

Die Kategorisierung ist denkbar einfach: Bei weniger als 50 Haare pro Quadratzentimeter, wie beim Elefanten, spricht man von Behaarung. Bis 400 Haare – Katze, Hund, Löwe, Pferd – von Fell. Ab 400 vorwärts: von Pelz.

Nun gut: Dem Menschen wachsen bis zu 900 Haaren pro Quadratzentimeter auf dem Kopf. Meistens. Pelz also. Doch der Mensch nennt es anders. Denn der Mensch ist kein Tier. Und wenn der Mensch noch so zwei Millionen Haare hätte. Denn der Mensch ist.

„Bist du gerade nackt oder trägst du eine Pelzkutte?“, fragte vor Jahren ein anderes Ich seinen Comedy-Partner. „Du brauchst dir auf dem Bauch nur drei Knöppe annähen und schon darfst du ins Ritz! Mußt denen an der Garderobe nur erklären, warum du den Mantel anbehältst.“

In der Biologie zählt sich der Mensch selbst zum Tierreich, um sich dann direkt von den Tieren zu distanzieren. Um dann direkt bestimmte Gruppen – rassifizierte, weibliche – mit Tieren gleichzusetzen. Wild: die Natur, das Weib, nicht-weiße Personen. So werden deren Ausbeutung und Unterdrückung legitimiert. Natur versus Kultur. Im selben Atemzug wird Queerness bekämpft – wider die Natur.
Gaslighting auf Makroebene.

Das Fell schnurrt.

Vom Pelzhandel war das koloniale Projekt stark motiviert. Waren gegen Felle tauschte Jacques Cartier 1534 in Labrador und am Sankt-Lorenz-Strom. Im 16. Jahrhundert kommen in Europa Filzhüte in Mode. Benötigt werden große Mengen Biberfelle. Der Biber, ein Tier, das in England seit mindestens einhundert Jahren ausgestorben war. Im Herbst 1620 erreicht das Segelschiff Mayflower Abya Yala. Bekannt ist, dass die Pilgerväter, puritanische Dissident_innen, radikale Protestant_innen, Abweichler_innen von der Church of England hofften, eine Kolonie zu gründen, wo sie ihre Religion frei ausüben durften. Aber das ist nur die Hälfte der Geschichte. Die Company of Merchant Adventurers, die die Reise sponserte, hatte deutlich weniger spirituelle Ambitionen. „In fact the Bible and the beaver were the two mainstays of the young colony.“ (Adams, S. 93) Die Bibel und der Biber. Akkumulation von Glauben und Geschäft. In wechselseitiger Legitimität. Ja, in New England „religion and profit jump together” (Edward Winslow, zitiert nach Wilson, S. 78).

Bis in das späte 17. Jahrhundert gestatten in Europa Erlasse manche Pelzarten nur bestimmten Ständen. Hermelin dürfen nur Könige und Gelehrte tragen. Im 18. Jahrhundert bringen Franzosen circa 300.000 kg Fell pro Jahr nach Europa. Langsam erschöpfen sich in Abya Yala die Pelzquellen. Aber es gibt auch Schwarz-, Braun- und Grizzlybären, Pumas, Elche und Hirsche, Schneehasen, Füchse und Wölfe und Karibus.

Streichelzoo. Streichelbecken. Schaufelnasen-Hammerhaien. Streichelsinn geschmeichelt.
Fell-Freiheit. Enge Drahtkäfige aus Gitterrosten. Tiere, die sich sonst nicht riechen könnten, nebeneinander eingepfercht. Nerze in engste Käfige, ohne jede Bademöglichkeit. Auch Biber, Sumpfbiber, die das Wasser lieben, werden in Verschlägen aus Beton gehalten, ohne Zugang zu einem Badebassin. Füchse haben keine Möglichkeit zum Graben und Wühlen, und die springfreudigen Chinchillas sind zur Bewegungslosigkeit verdammt. Um die Pelze zu schonen, werden die Tiere dann vergast oder mit analen Stromschlägen getötet.

Warum empfindet Jacques Derrida Scham vor seiner Katze, vor dem Tier, dem der Humanismus die Möglichkeit abgesprochen hat, sich selbst zu wissen?

Vellushaar. Flaumhaar. Vogelfell. Sprechen wir doch einmal über das Fell von Geranien, das Fell von Rosen und Alpenveilchen. Eine Forelle mit Fell wurde gefischt! Haararmer Mensch. Genitalpelz bewirkt Pheromonen. Kopfpelz schützt unser Hirn vor der Sonne, in der sich die Katze rekelt. Wenn unser Pelz sich in Relation zur Sonneneinstrahlung angepasst hat, wenn er im kausalen Verhältnis zur Sonne steht, kann man sagen, dass Pelz durch Photosynthese wächst?

Die Pflanze, die ich also bin, streichelt die Katze, die nach warmem Biskuit riecht, nach Waschpulver, nach ihrem Futter, wenn sie gähnt. Ich puste auf ihr Fell. An ihrer Flanke schlägt mein Pusten Wellen wie Wind in ein Kornfeld, wie der Rover Perseverance Staub aufwirbelte, als er sich der roten Mars-Oberfläche näherte.
Schnurren.
Der Streichelsinn, den gibt es. Es ist anders als der Tastsinn. Unser Streichelsinn hilft uns, Nähe und Geborgenheit zu spüren. Wer denkt, Glück könne man nicht anfassen, hat noch nie meine Katze gestreichelt.

 

Literatur:

Adams, James Truslow. The Founding of New England. Boston: Atlantic Monthly Press, 1921
Derrida, Jacques. L’animal que donc je suis. Paris: Galilée, 2006
Dolin, Eric Jay. Fur, Fortune, and Empire. The Epic History of the Fur Trade in America. New York: Norton & Company, 2010
Haraway, Donna. The companion species manifesto. Dogs, people, and significant otherness. Chicago: Prickly Paradigm Press, 2003
Wilson, James. The Earth Shall Weep. A History Of Native America. New York: Grove/Atlantic, 2007
Tierschutzbund: www.tierschutzbund.de

 


 

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