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Farbkino

Andreas Stichmann

Farbkino © Andreas Stichmann

Wir sitzen auf Gymnastikbällen und schauen nach vorn. Unsere Rücken sind grade. Wir tragen einfarbige, atmungsaktive Gymnastikanzüge. Hier in unserem Kino sitzen wir heute, denn heute ist Kinotag, und unser Kino — das ist das Kino Monochrom.
Auf der Leinwand sehen wir eine einzige Farbe — Türkis. Sehr schön ist das: Das Erlebnis Türkis.
Fünfundsechzig Minuten lang.

Hin und wieder, unter leisen Zischgeräuschen, geht ein junger Mann mit einer Sprühflasche herum. Er sprüht eine pflanzliche Duftflüssigkeit in die Luft, ein milder Nebel legt sich über uns. Etwas Leichtes, Türkisfarbenes ist heute in diesem Duft. Während der junge Mann so herumgeht und ganz sachte sprüht, lächelt er.

Die Farbe ist aber das Zentrale. Die Farbe kommt in Wellen. Sie tastet sich vorsichtig in unser Inneres vor. Sie verharrt vor den halboffenen Türen. Sie guckt fragend hinein. Dann erfüllt sie uns strömend.

Man muss dabei nicht summen, das wissen alle, dass es keinen Zwang zum Summen gibt, es gehen Farbkinoabende vorüber, an denen überhaupt niemand summt, Abende, an denen wir uns befangen fühlen, an denen sich manche von uns befangen fühlen möchten. So verharren wir dann einfach stumm auf den Bällen. Aber wenn wir summen, dann summen wir wirklich! Der ganze Saal vereint sich dann, summend legt jeder von uns sein ICH ab. Als ein großes WIR summen wir dann auf unseren Bällen.

Später übrigens – ob wir gesummt haben oder nicht – gehen wir immer noch spazieren. Die Nächte sind warm jetzt, überall am Flussufer sieht man unsere monochromen Gymnastikanzüge unaufdringlich leuchten, aus einem ganz bestimmten, guten Material sind sie gemacht. Sie wachsen mit uns mit. Wir tragen sie unser Leben lang. Gelb, grün, blau, rot. Wir genießen uns. Wir bummeln und schlendern. Manchmal finden wir uns in spontanen Farbgruppen zusammen.
„Guckt, dort hinten hat sich eine gelbe Gruppe ergeben!“
„Ja, und hier vorne verharren wir in einem tiefen Bordeaux.“
„Wir verharren ebenfalls — in einem warmen Koriander!“

Wenn dann jemand einen Schabernack treiben möchte in diesen Farbkinonächten, so formt er mit den Händen einen Trichter und ruft den Titel eines Buches oder Kinofilms aus den Nuller Jahren. Wir anderen lachen. Es kann auch passieren, dass sich unser Gelächter steigert und nach und nach die ganze Promenade hochzieht. Von Gruppe zu Gruppe wird das Gelächter dann weitergegeben. Es ist, als wäre es die Promenade selbst, die sich freut.

„Habt ihr gehört? Da hat grade jemand THE BATMAN gerufen!“
„DER SCHWARM! Ich habe DER SCHWARM gehört!“

Unsere Wangen sind gerötet. An diesen Unsinn von Früher zu denken, das macht, dass wir die Köpfe schütteln. Dieses ganze bunte, aufreibende Zeug, denken wir. Diese hektischen Freizeitbeschäftigungen damals. Die Leute hatten zu schwere Klamotten. Sie waren in ihren schweren Klamotten zu nervös.

„REISEN! IMMER REISEN!“
„Pornographie!“
„Kirmes!“

So reden wir in diesen Farbkinonächten. Die Menschen fließen ineinander. Noch lange werden wir wohl daran zurückdenken müssen.

„Wisst ihr noch? Die Farbkinonächte?“
„JA! JA! JA! Der Beginn von dem, was jetzt ist.“
„Farbkino — ich erinnere mich. Sittsam und lind!“


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser ›Stoff‹ ist Teil von Stoffe: »Die Diplomatin« und »Eine Liebe in Pjöngjang«, Lesung und Gespräch mit Lucy Fricke und Andreas Stichmann am 12. Juli 2022.

Materialsammlung »Stoffe«

Farbkino © Andreas Stichmann

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