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Familiengeschichte

Lutz Seiler

01_Seiler_Familiengeschichte © Culmitzsch, links der Vater, rechts Onkel Hermann

© Culmitzsch, links der Vater, rechts Onkel Hermann

Im Notfall

Es beginnt irgendwann nach Mitternacht, mit einem flauen Gefühl in der Magengegend. Ich rolle mich auf die Seite und lege mir eine Hand auf den Bauch. Alles sehr leise, um C. nicht zu wecken. Der Schmerz, der folgt, zwingt mich, meine Beine auszustrecken. Mein Gesicht ist heiß, und ich kann die Bewegung der Nachtluft spüren, die durch das offene Dachfenster ins Zimmer strömt. Die Kühle liegt jetzt wie eine Maske auf meinem Gesicht, oder mein Gesicht ist hart geworden im Dunkel.

Was ist, fragt C.

Ich weiß nicht. Irgendwas im Rücken. Im Bauch.

Die Antwort kostet Kraft, ein Schweißausbruch. Es ist zu heiß unter der Decke. Langsam richte ich mich auf. Ich taste mich zur Treppe nach unten. Das Stechen im Rücken zwingt mich, ein Hohlkreuz zu machen beim Gehen. Ich atme vorsichtig und versuche, am Schmerz vorbei zu schleichen, er sitzt jetzt halbrechts, in der Nierengegend. Meine Hand findet den Lichtschalter im Flur und verfehlt dann den Schalter im Bad, doch das Licht vom Flur genügt.

Ich übergebe mich sofort und kann nicht aufhören damit, mich zu übergeben, obwohl schon lange nichts mehr in mir ist. Nichts als etwas hellgelbe Säure, die im Hals eine brennende Spur hinterlässt. Ich atme und stöhne ins Becken, weil mir das Erleichterung verschafft. Das Becken verzerrt mein Atmen und Stöhnen zu einem dunklen Gedröhn, es ist dafür wie gemacht: „Talking with Ralph on the big white telephone“ – ich sehe, wie ich gleich wieder im Bett liegen werde, um dann diesen Witz anzubringen, den ich vor ein paar Jahren von einem Dichter in Los Angeles gehört habe, nach einem Poetry Festival. Natürlich kennt C. die Geschichte, aber es wird der richtige Zeitpunkt sein, sie noch einmal zum Lachen zu finden, um dann endlich weiterzuschlafen.

Ohne mein Zutun formuliert etwas in mir einen Satz, der die Worte „Bildkraft der amerikanischen Lyrik“ enthält. Ich spüre den Trost, den mir das große Becken in meinen Händen anbieten will (seine Glätte und wunderbare Kühle), habe aber keine Zeit mehr dafür, denn in diesem Moment beginnt das Geräusch. Um zu wissen, wo es herkommt, sehe ich mich um. Hinter mir hockt C., die etwas sagt, das heißt, ihr Mund bewegt sich, und sie hält mich mit beiden Armen an den Schultern, was ihr offensichtlich Mühe bereitet. Ich sehe die Angst in ihrem Gesicht. Ein Träger ihres Nachthemds ist heruntergerutscht. Ich denke daran, ihn wieder zurechtzurücken, aber mein Arm bewegt sich nicht.

Das Geräusch: Es ist eine Art an- und abschwellendes Rauschen. Es befindet sich gleich neben mir. Offensichtlich ist die Heizung, die nachts herunterfährt, noch einmal angesprungen – seit Jahren gibt es Probleme mit der Heizung. Langsam löse ich mich vom guten glatten Porzellan und versuche, eine Hand auf den Heizkörper neben der Toilette zu legen. Diese Bewegung gelingt zwar, gerät aber viel zu fahrig, hektisch, sie verbraucht meine ganze Energie und hat zur Folge, dass das Rauschen jetzt ungehindert in mich eindringen kann: C. beginnt zu verschwimmen. Ihr Gesicht ist direkt über mir; aus Gründen, die mir entgangen sind, liege ich inzwischen auf dem Boden. Ich schrumpfe und die Duschkabine wächst. Das Bad entfernte sich langsam, nein, es löste sich auf: weißer Graupel, Schneefall, Ende des Programms.

Ich erinnere mich gut an diesen letzten Moment. Ich erinnere mich, wie ich im Graupelrauschen, von einer auf die andere Sekunde, restlos beherrscht war von dem Gedanken, noch Bescheid zu sagen: Ich muss es C. noch sagen, eine Nachricht geben darüber, was im nächsten Moment mit mir geschehen wird, das ist meine Pflicht – genauer gesagt, geht es plötzlich um alles. Ohne Bescheid wird sie nicht wissen, wohin ich jetzt verschwinde und wie sie mich wiederfinden kann – wir würden getrennt ohne ein Wort, was den Eintritt vollkommenster Verlorenheit bedeutet. Augenblicklich breche ich in Panik aus und brülle es in einem fort:

Ich tret jetzt weg, Kleine …

Ich tret jetzt weg …

Ruhig, ganz ruhig, du machst das gut, ganz gut, du bist sehr tapfer, flüstert C. Sie hat das Telefon in der Hand.

 

Entwurf für den Anfang einer Erzählung, geschrieben 2010. Ausgegraben für die Veranstaltung „Stoffe“ am 9. Februar 2021 im Literarischen Colloquiums Berlin.

 


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser »Stoff« ist Teil von Eröffnung »Stoffe« | Stoffe #1.

Materialsammlung »Stoffe«

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