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Der leere Raum

Hans-Ulrich Treichel

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© privat

Das Foto hat mir erst kürzlich ein Großcousin zukommen lassen, der sich um unsere gemeinsame Familiengeschichte bemüht. Auch den Blick in alte Kirchenbücher scheut er nicht und er weiß inzwischen weitaus mehr über unsere irgendwann aus Schwaben in den Osten Europas emigrierten Vorfahren als ich selbst.

Um meine direkten Vorfahren freilich hätte ich mich auch selbst kümmern können. Aber dazu war keine Zeit. Die Eltern hatten keine Zeit, sich zu erinnern. Keine Zeit, eine Vergangenheit gehabt zu haben. Keine Zeit, mir etwas zu erzählen. Und ich hätte keine Zeit gehabt, ihnen zuzuhören. Die Anforderungen der Gegenwart fraßen alle Zeit auf.

Das Erzählte blieb unerzählt. Mit dem Ergebnis, dass das Unerzählte sich ausbreitete. Mit dem Ergebnis, dass der Raum der Vergangenheit zu einer bedrohlichen Leerstelle wurde. Zu einem leeren Signifikanten. Der was nicht bezeichnete? Der wovon nicht sprach? Und der selbst wie verbildlicht werden kann? Vielleicht nicht gerade als ein Abgrund, aber doch als ein leerer Raum, der sich mal ausdehnt und mal zusammenzieht und zudem die Eigenschaft hat, auch die Gegenwart mit dem Virus der Leere zu infizieren.

Das ist der Stoff, aus dem das Schreiben ist. Oder sein könnte. Je nachdem, was für ein Mensch man ist und zu welchem Autorentyp man gehört. Wenn man dafür empfänglich ist, für diesen leeren Raum, und wenn das eigene autobiographische Selbst ihn ständig als Herausforderung spürt, dann stellt sich die Frage nach dem Stoff eigentlich nicht. Denn der Stoff ist immer schon gegeben: Es muss erzählt werden.

Das abgebildete Foto, unscharf und das Foto eines Fotos, verkörpert die Aufgabe des Autors meines Erachtens auf das Schönste. Die eigenen und zugleich fremden Vorfahren irgendwo im Osten. An der Entzifferung oder auch Gestaltung ihrer Vergangenheit, ihrer Gegenwart und ihrer Zukunft kann sich der Autor ein Leben lang abarbeiten. Bis hin zu sich selbst. Bis zum Hier und Jetzt. Dann nimmt er das Foto erneut in die Hand.

 


 

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Dieser »Stoff« ist Teil von »Stoffe: >Daheim<«.

Materialsammlung »Stoffe«

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