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Das Geistige

Matthias Nawrat

Nawrat_Das Geistige © Lorena Simmel

© Lorena Simmel

Es gibt einen Fantasiestoff, der aber tödlich real ist. Er besitzt Ausdehnung, er entfaltet sich im Raum – dabei ist er unsichtbar und nicht mit der Hand zu greifen. Er kann auch viskos und klebrig sein, bleibt haften, lässt einen nicht los. Er ist reiner Gedanke, er besteht aus Mythen und Geschichten, und doch zeigt er sich nur in der Materie (auf dem Papier, in der Schwingung der Luft, an einer Grenzmauer, auf der Tastatur). Wo Materie zählbar und austauschbar ist (jedes Nickelatom gleicht dem anderen), ist er jeweils einzigartig. Wenn er verschwindet, ist er nicht mehr zurückzuholen – seine Existenz ereignete sich in der Geschichte nur ein einziges Mal. Man könnte diesen Fantasiestoff das Geistige nennen, oder: das Menschenleben. Dieser Stoff scheint sich nur in der Erzählung von sich selbst zu kennen – und universal zu sein. Aber doch ist er gebunden an den geografischen Raum, an eine bestimmte Stadt eines bestimmten Landes, an die Konkretheit eines Ortes, an eine spezifische Geschichte. Die Entscheidungen, die die Zeit einem Menschen abverlangt, da Freiheit immer an Verantwortung geknüpft ist, sind ermöglicht und begrenzt durch den Ort, an dem jeweilige menschengemachte Umstände herrschen – ökonomische, auf dem Papier festgeschriebene, in Mauern gegossene. Der Stoff, von dem ich spreche, kann wie Materie zerstört, zerbrochen, zersetzt werden – aber seine Einmaligkeit ist doch nicht flüchtig. Unsichtbar sind die Hoffnungen, die am Materiellen zerschellen können oder darin hinabsinken, um verloren zu gehen am Grund des Mittelmeers, in einem Hinterzimmer der saudi-arabischen Botschaft in Kairo, bei einem Autounfall auf einer Landstraße, an einer Sportschuhnähmaschine in einer Fabrik in Mexico, auf dem nächtlichen Weg von der U-Bahn nach Hause. Aber das Verschwinden des Stoffs ist nie vollständig, und so auch nicht seine materiellen Nachwirkungen. Etwas bleibt zurück, bei denen, die es verwahren. Es wird Teil der Utopie.

 


 

Woraus besteht die Gegenwartsliteratur? Unsere Reihe im Rahmen von »Neustart Kultur« fragt: Woraus ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gemacht, aus welchen Materialien, Gegenständen und Ideen besteht sie, aus welchen Stoffen gewinnen Texte heute ihre Kraft? Mehr Infos zur Veranstaltungsreihe hier.

Dieser »Stoff« ist Teil von Eröffnung »Stoffe« | Stoffe #1.

Materialsammlung »Stoffe«

Nawrat_Das Geistige © Lorena Simmel

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