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Saskia Vogel: Body of Work: A Woman’s Life in Porn

Saskia Vogel: Body of Work: A Woman’s Life in Porn

Übersetzung: Richard Stoiber

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Einleitung

Es gibt wenig Anlass dazu, Pornografie wichtig zu finden oder gar herausfinden zu wollen, warum sie wichtig sein sollte. Die meisten denken tatsächlich kaum darüber nach. Wenn heutzutage über-haupt ein Gedanke daran verschwendet wird, dann wahrscheinlich über PornHub, eine der vielen Porno-Seiten im Besitz des Ungetüms MindGeek. Ihr schier endloses, marktdominierendes Netz-werk aus Studios und Websites hat dazu beigetragen, dass Pornografie heute wirkt wie ein amorphes digitales Ungeheuer, ein endloser Strom aus Inhalten, so austauschbar wie allgegenwärtig. Es gibt wahrlich genügend Gründe zu denken, dass Pornografie als Kulturprodukt keine Rolle spielt.
Sich Pornografie auf eine Art zu nähern, die nicht zugleich ein Ruf nach ihrer Abschaffung ist, birgt stets das Risiko, von ihrem Stigma befleckt zu werden. Man läuft Gefahr zu Schmutz zu werden. Und Schmutz ist „niemals ein einmaliges, isoliertes Ereignis. Wo es Schmutz gibt, gibt es auch ein System“. (Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Ver-unreinigung und Tabu, Berlin 1985, S. 53.) Und dieses System bewahrt uns davor, in einer Welt zu leben, in der wir Entscheidungen treffen, die dem Wohle aller dienen, anstatt nur einigen wenigen Privilegierten.
Im Jahr 1973 wurde der Porno chic und der erste Porno-Superstar, Linda Lovelace, betrat die Bühne. Dieses Buch wirft einen Blick zurück in diese Zeit, auf das Leben von Linda Lovelace und andere Schlüsselfiguren, um herauszufinden, wie die Narrative, die damals rund um Pornografie aufgekommen sind, uns noch heute beeinflussen. Es ist zugleich eine Geschichte über Frauen und das Begehren, meines und das anderer. Es soll die Antwort auf eine Frage sein, die ich mir schon eine ganze Weile lang stelle: Was ist es, das mich an Pornografie als Thema seit so vielen Jahren interessiert? Hier ist ein kleiner Vorgeschmack.

Auszug

Linda Lovelace, der erste Pornostar, den Amerikaner in ihr Wohnzimmer einluden, war eine Frau, die einem gewalttätigen Mann ausgeliefert war, und ich glaube, dass das wahr ist, doch von allen Überzeugungen in der in der populären Wahrnehmungy von Pornografie ist dieser Umstand von Lindas Leben derjenige, der am ehesten infrage gestellt wird. Es ist die Art der Geschichte, die dabei in Zweifel gezogen wird. Als Linda im April 1980 in der Phil-Donahue-Show auftrat, um ihr Buch Ordeal zu promoten, in dem sie eine Geschichte voller Missbrauch und Nötigung durch ihren Ehemann Chuck Traynor erzählt, schlug ihr die Skepsis sowohl des Moderators als auch des Publikums entgegen. Sie fragten sich, wie sie Dinge tun konnte, die sie nicht wirklich wollte. Donahue fragte sie: „Wie kann ein so nettes Mädchen wie Sie sich in so etwas verstricken?“ …………… antwortet Linda: „Dem Publikum fällt es schwer zu verstehen, wie Sie so hilflos sein konnten. Sie beschuldigen andere, übernehmen aber selbst keine Verantwortung.“ Gloria Steinem sah Linda in der Show und war fest entschlossen, sich mit ihr in Verbindung zu setzen. Steinem sollte eine Unterstützerin von Lindas Sache werden. „Warum bezweifeln wir Erzählungen über Sex?“, fragte Steinem, als sie zusammen mit Linda im Mai 1980 in Tom Snyders Tomorrow Show auftrat. „Niemand stellt die Frage, was Mr. Traynor dazu bewegt hat, zu missbrauchen.“ (Tomorrow Show, moderiert von Tom Snyder. Ausgestrahlt am 10. Mai 1980, World of Wonder Production Company Archives, Hollywood, CA.)

Es gibt jene, die denken, dass Linda ihr Martyrium übertrieben hat. Falls sie das getan hat, dann vielleicht, weil die Erfahrung sie gelehrt hatte, dass ihre Erzählung ignoriert werden würde, und sie deshalb die Schreckensszenarien aufgebauscht hat, in der Hoffnung, gehört zu werden. Wahr-scheinlich wusste sie, intuitiv oder woanders her, dass die Art und Weise, auf die sie und Koautor Mike McGrady ihre Geschichte in Ordeal erzählten – eine Geschichte der Verführung, Gefangenschaft und des Entkommens – einen Nerv treffen würde. In ihrer Dissertation über Linda Lovelace schreibt Nancy Leigh Semin, dass Ordeal den Genres der Verführungs- und Gefangenschaftsnarrative zuzurechnen sei. Beide Genres arbeiten mit Sensationalismus und Angst, Angst vor dem Anderen, Angst vor dem Unbekannten. Indem sie das tun, untermauern sie kulturelle Vorstellungen über Reinheit und Gefahr. „Lindas Vorwürfe“, fügt Semin hinzu, „bedienten die schlimmsten gesellschaftlichen Ängsten in Bezug auf Pornografie.

Diese Vorwürfte nährten leicht die falsche Vorstellung, dass Frauen, die in der Pornoindustrie arbeiten, von der Straße gezerrt, unter Drogen gesetzt und gegen ihren Willen gezwungen wurden, Filme zu machen.“ (Nancy Leigh Semin, An Examination of Linda Lovelace and her Influence on Feminist Thought and the Pornographic Industry In America, University of Texas at Austin 2006, S. 201.)
Semin merkt an, dass Lindas viele Erwähnungen ihres Glaubens an Gott ebenso Teil dieser Tradition sind, und weist darauf hin, dass „wie auch immer die Schuld der Gefangenen aussehen möge, sofern es eine solche überhaupt gibt, hatte sie oder er am Ende zweifelsohne eine überzeugende Erlösung erfahren.“ (Ebd., S. 199.) In diesem Fall mag Linda vielleicht für ihre eigene Erlösung geschrieben haben, doch in der Öffentlichkeit konnte sie diese anscheinend nur in der Anti-Pornografie-Bewegung finden.
Das Narrativ der Gefangenschaft ist in leicht abgewandelter Form im Internet wieder aufgetaucht, wo eine leidenschaftliche Fangemeinde hin und wieder spekuliert, dass das Objekt ihrer Begierde gefangen gehalten wird und verschlüsselte Notrufe über ihre Social-Media-Kanäle absendet. Zu spekulieren ist ein unwiderstehlicher Spaß, ebenso wie auch ein bisschen Amateurdetektivarbeit. Vielleicht erklärt genau das, was man über Lindas Geschichte nicht wissen kann – ihre Widersprü-che – zum Teil, warum sie heute noch immer aktuell ist. Auch ich habe meine Freude daran gehabt, ihre Geschichte zusammenzusetzen. Doch wenn eine Geschichte durch ihr Ende definiert wird, wo setzen wir dann bei Linda den Schlusspunkt?

Die Darstellerin auf dem Bildschirm sieht aus, als hätte es ihr gefallen. Die Diskussion darüber, was für menschliche Beziehungen jenseits religiöser Beschränkungen möglich sind, kann so nur einmal in einer Generation vorkommen. Die Frau, deren Körper auch der von Linda Lovelace war, bestand darauf, dass Lovelace Fiktion sei und Linda, die Frau, ein Opfer ebenjener Fiktion. Doch egal, wie hart Linda dafür gearbeitet hat, rehabilitiert zu werden – sie wurde wie Schmutz behan-delt. Sobald ihre Reinheit in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit befleckt war, gab es kein Zurück mehr. Ein Ende wurde geschrieben, die Geschichte von Linda Lovelace sollte nicht vergessen werden, sie durfte nicht in Lindas gesamtes Leben integriert werden. Es war nicht bloß ein Kapitel, das in der gesamten Gesellschaft enden durfte, es war die komplette Geschichte. Mit tragischer Symmetrie endet Linda Lovelace‘ Erzählung mit einem Autounfall. Ein Autounfall war es auch gewesen, der sie überhaupt erst dazu bewegt hatte, bei ihren Eltern in Florida einzuziehen, wo sie – eine junge Frau in einem besonders verletzlichen Zustand – auf Chuck treffen sollte. Am 22. April 2002 wurden in Colorado die lebenserhaltenden Maschinen ausgestellt. Lovelace hinterließ zwei erwachsene Kinder.
Wenn wir Deep Throat schauen, sehen wir dabei zu, wie Linda vergewaltigt wird, sagt sie. Kein Wunder, dass Linda eine Unterstützerin in Andrea Dworkin gefunden hat. Wenn Dworkin schreibt, dass Geschlechtsverkehr „ein Mittel ist, um Frauen physiologisch zu unterwerfen“, denke ich daran, wie Chucks Gewalt sich in allem manifestierte, was er sie tun ließ. Lindas Beschreibungen von Chucks Gewalt sind Parabeln über Reinheit und Gefahr, ebenso sehr wie sie darstellen, wie eine misogyne Kultur unweigerlich ihre Misogynie auch in Sex überträgt. Wir können dem, was wir internalisiert haben, nicht entkommen, denn, so Dworkin, „im Ficken drücken sich die tiefsten Emotionen aus, die man zum Leben als Ganzes hat, sogar mit Fremden, egal wie beliebig oder unpersönlich die Begegnung ist. Wut, Hass, Bitterkeit, Freude, Zärtlichkeit, sogar Gnade, alle haben ihr Zuhause in dieser Leidenschaft, in diesem Akt.“ (Können wir nicht auch ohne Emotionen ficken, oder gar aus Langeweile …?, fragt die Pornowissenschaftlerin Madita Oeming mich, als ich ihr dieses Kapitel zu lesen gebe.) Dasselbe lässt sich auch für Künstler:innen sagen, und Sex ist ein Akt – oder eine Geisteshaltung, eine Stimmung – von dem aus brillante Arbeiten entstehen kön-nen. Rainer Maria Rilke dachte das. Wie er in seinen Briefen an einen jungen Dichter schreibt, sind das Schaffen von Kunst und Sex fast ein und dasselbe: „Und tatsächlich liegt ja künstlerisches Erleben so unglaublich nahe am geschlechtlichen, an seinem Weh und seiner Lust, daß die beiden Erscheinungen eigentlich nur verschiedene Formen einer und derselben Sehnsucht und Seligkeit sind.“ (Rainer Maria Rilke, Briefe an einen junge Dichter, Leipzig o. J., S. 20) Künstler:in zu sein und „im Geschlechtlichen“ zu erschaffen, kann Kunst erzeugen, die „sehr groß und wichtig“ ist, glaubt Rilke. Der Impuls, harten Sex zu filmen, kommt vielleicht genau daher, der Ahnung, dass etwas Transzendentes geboren werden kann, wenn Sex und Kunst sich treffen. Und trotzdem. Aus künstlerischer Perspektive verfehlt Pornografie oft das Ziel und schafft es lediglich zu erregen oder sich selbst zu überbieten, und zwar als Allerweltsprodukt. Pornografische Kunst verlangt vielleicht ein anderes Instrumentarium, eine andere Absicht oder Mission.
Eines der Probleme dabei ist, wie sehr wir uns der Vorstellung von Männern und Frauen verpflichtet fühlen und wie stark die Konzepte von „Männern“ und „Frauen“ ganz grundsätzlich mit Vor-stellungen von Reinheit und Gefahr verbunden sind. Diese Kategorien geraten uns in den Weg. In Woman Hating behauptet Dworkin, dass „‚Mann‘ und ‚Frau‘ Fiktionen, Karikaturen, kulturelle Konstrukte sind … reduzierend, totalitär, dem menschlichen Werden unangemessen.“ Hierin trifft sie sich mit Rilke. In diesem Brief diskutiert er, warum ein bestimmter Schriftsteller in seinen Darstellungen von Sex versagt: „Da ist keine ganz reife und reine Geschlechtswelt, eine, die nicht menschlich genug, die nur männlich ist, Brunst ist, Rausch und Ruhelosigkeit, und beladen mit den alten Vorurteilen und Hofarten, mit denen der Mann die Liebe entstellt und beladen hat.“ (Ebd.)
Während ich das hier schreibe, wird mir bewusst, dass das Versprechen auf diese andere Pornografie das ist, was mich an dem Thema interessiert, auch wenn ich aus Faulheit und Missachtung meistens zu dem tendiere, was man am ehesten als sexualisierte Dominanz und Vernichtung von Frauen bezeichnen könnte. (Madita fragt mich: Liegt die wahre Misogynie nicht darin, wie sehr wir uns dafür verurteilen, genau das zu wollen?) Gedankenlos treibe ich immer eher zu Pornos, in denen Frauen an ihre Grenzen getrieben werden, auseinandergedehnt wie in Cartoons, während ich gaffend leise vor mich hin flüstere: „Nimm es, nimm es, nimm es.“ Doch wovon ich träume, wenn ich mir vorstelle, was Pornos sein könnten, dann ist das menschliche Pornografie. Ich will ein Teil des menschlichen Werden sein.



Saskia Vogel (geb. 1981 in Los Angeles) lebt nach längeren Aufenthalten in Schweden und Großbritannien als Schriftstellerin, Publizistin und Übersetzerin in Berlin. Aus dem Schwedischen hat sie Autoren wie Karolina Ramqvist, Katrine Marcal und Lina Wolff ins Englische übertragen und wurde mit dem English PEN Translates Award gekürt. Als Publizistin beschäftigt sie sich mit den Themen Gewalt, Gender und Sexualität, ihre Texte erscheinen in Granta, Guernica, The White Review, The Offing, Paris Review Daily und The Quietus. Ihr Debütroman „Permission“ wurde in mehrere Sprachen übersetzt und erschien 2020 in Benjamin Dittmann-Biebers deutscher Übersetzung im Secession Verlag.

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