Leselampe

2023 | KW 21

© Nikolai Vogel

Buchempfehlung der Woche

von Nikolai Vogel

Nikolai Vogel, geboren 1971, lebt als Schriftsteller und bildender Künstler in München. Finalist beim Open Mike 2004 und beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2005. Bayerischer Kunstförderpreis 2007, Sparte Literatur. Projektstipendium Bildende Kunst der Stadt München 2008. Gewinn im Wettbewerb »Let's perform Kunst im öffentlichen Raum« des Kulturreferats München 2012. Seine letzten Veröffentlichungen sind Fragmente zu einem Langgedicht (gutleut verlag, 2019),  Vielzweckbuch (edition offenes feld, 2021) und Anthropoem (Black Ink Lyrik, 2021). Nikolai Vogel ist in den Musikduos »Schlachtbach« und »Thinking Without Brain« aktiv. Zudem ist er als Verleger des Black Ink Verlag tätig, den er zusammen mit Kilian Fitzpatrick seit 1993 betreibt.

Anja Utler
Es beginnt. Trauerrefrain
Edition Korrespondenzen, Wien 2023

Das Wissen, dass es um die Lebbarkeit unserer Zukunft auf dieser Welt nicht zum Besten steht, und das Wissen, dass der Mensch zu großen Teilen selbst Schuld daran hat, ist ein Wissen, das nun vielleicht nicht mehr so abstrakt bleibt, sondern immer mehr ins Empfinden übergeht – während der Covid-Pandemie, die das Leben so eng machte, die so vieles und viele auf sich selbst zurückwarf, etwa dieses Gefühl, als habe sich Dasein in Warten verwandelt, und als bleibe gleichzeitig keine Zeit mehr.

Der Klimawandel zeichnet sich immer bedrohlicher ab, aber statt die Probleme anzugehen, haben wir es immer noch mit Narzissmus zu tun, mit dem Größenwahn einiger, die dafür von vielen auch noch angehimmelt werden. Dass uns das nicht loslässt? Nationalismus, Fundamentalismus, Despotismus als Vorwand für Machterhalt, Machtausübung, Großmachtfantasien. Und dann der Krieg, Russlands Angriff auf die Ukraine, Grabenkämpfe, Materialschlacht, Vernichtung von Menschen durch Menschen. Ich fühle mich seither, als sei eine drückende Wolkendecke dauerhaft dicht über meinem und unseren Köpfen, ein emotionales Tiefdruckgebiet, das auch bei blaustem Himmel noch spürbar bleibt.

Auf dem immer wieder so anregenden großen Büchertisch der Lyrikbuchhandlung, eines dreitägigen Lyrikfestivals während der Leipziger Buchmesse, Ende April 2023, fiel mein Blick auf ein weißes Cover mit lila und blauer Titelei und ich nahm es, schlug es auf, blätterte, las, kaufte.

»Am 24.02.2002, als Putins Russland die Ukrainerïnnen und ihr Land großflächig angriff, begann ich zu sinken. Mich schluckte ein Gefühl und es transformierte mich: Ich verwandelte mich in eine Trauernde«, schreibt Anja Utler im Essay, der in ihrem aktuellen Buch »Es beginnt« auf den Gedichtteil folgt. »Trauerrefrain« ist das Buch untertitelt.

Auf unserer Welt war doch immer genug Leid, Verbrechen und Brechen der Menschenwürde. Warum also jetzt diese Trauer? Anja Utler geht ihr auf die Spur, benennt sie, und findet sie unter anderem darin, dass eine Grundvoraussetzung unserer Gesellschaft sich als bloße Hoffnung entpuppt hat. Dieses »Nie wieder!«, mit dem wir doch in der Schule aufgewachsen sind, hat nicht gehalten. »Dass ein europäischer Staat einen anderen Staat und seine Menschen im Willen zur Vernichtung überfällt, ist weiterhin möglich.«

Kein Wohlfühlbuch, keines, das froh macht oder lachen lässt, nein, aber eines, das vielleicht zur Sprache hilft, eines, das sucht, das benennt, das fragt und explizit dazu auffordert »auch die haarigen Gefühle zu denken«. Anja Utler schreibt darüber, wie schwer es ist, diese Trauer zu benennen, darüber zu kommunizieren, eine Sprache davon zu haben – und sie schreibt auch über die Scham, sie selbst ist ja nicht unmittelbar betroffen und will sich keineswegs gleichstellen mit denen, die den Krieg in der Ukraine erleben müssen. Sie weiß, dass es sich vielleicht »klein, lachhaft und irrelevant ausnimmt«, in diesem Zustand über Poesie zu reden und feststellen zu müssen, dass die eigene Poetologie, die »kompositorische Position«, der sie jahrelang gefolgt ist, plötzlich nicht mehr zu tragen vermochte.

Sie schreibt, in welchen Kontexten in unserer Gesellschaft Trauer erlaubt ist und in welchen sie Abwehrreflexe erzeugt, als sei es unangemessen, über emotionale Zustände zu sprechen. Und sie schreibt darüber, dass dann aber unausgesprochene, zurückgedrängte Emotionalität eben politisch ausgenutzt und instrumentalisiert werden kann. Und daher begibt sie sich in ihrem Essay auch auf die Suche nach einer »emotional durchlässigen Gesprächspraxis«. Denn »Sprachlosigkeit sperrt keineswegs die Emotionen in einen Käfig. Vielmehr ermöglicht sie den Emotionen, den ganzen Menschen in ihren Käfig zu verwandeln und an ihm zu rütteln.«

Die Trauer, die immer wieder neu beginnt, neu ansetzt mit dem Tag. Da ist jetzt ein neues Totenfeld auf unserem Kontinent und eine neue, große Wunde, die Generationen belasten wird und Anlass zu weiterem Hass, weiteren Konflikten, weiterer Gewalt liefern kann. Ein neues Mahnmal. Was sich Menschen antun, als sei dem Tod, der eigenen Sterblichkeit, nur mit Töten zu begegnen. Und weiter die Frage, wie wir so etwas endlich hinter uns lassen.

»Es beginnt der Tag.« Nicht ein Tag. Also vielleicht der eine, einzige, der Tag, der immer wieder derselbe ist. Der keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr hat, so wie die Trauer zunächst nur ausweglose Gegenwart bleibt. Und da steht auch nicht »Der Tag beginnt«, sondern »Es beginnt«, als erwache erst einmal das Bewusstsein, das Wieder-und-immer-noch-Dasein, um dann doch wieder in diesem Tag zu landen.

209 haikuartige Gebilde formen den Gedichtteil des Buches, der vom anschließenden Essay durch ein blaues Blatt getrennt wird, tiefblau, wie Sehnsuchtssommerhimmel. Überwiegend Vierverser, mit je 5/7/5/7 Silben. Manche Gedichte sind kürzer, als brächen sie ab, als gäbe es nichts zu sagen, als liefen sie in ein Schweigen oder eine Sprachlosigkeit. Und der erste Vers lautet jeweils »Es beginnt der Tag«, vier Wörter, die sich einsprechen, die den Takt vorgeben für diesen »Trauerrefrain«:

»Es beginnt der Tag.
Er ließ sich nicht umgehen.
Die Pflanzen stranden
im Licht; reagieren«

oder

»Es beginnt der Tag.
Sichtbar wird das, was sonst auch
sichtbar war. Nichts hier
ist sichtbar unterbrochen.«

oder

»Es beginnt der Tag
zu allen Seiten. Wand und
Licht. Dahinter fliegt
der Kosmos auseinander«

Ein Refrain, Trauerrefrain. Die Strophen dazwischen bleiben ungesungen, der Tag in seinem Fortgang. Aber der Refrain spricht sich mir nun gelegentlich weiter, als finde er Sprache. Es beginnt der Tag, die Vögel singen draußen, als sei nichts anders.

Mehr Informationen