Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Martin Zähringer

Martin Zähringer lebt seit den 1980er Jahren in Berlin und beschäftigt sich als Kritiker mit Literatur, Gesellschaft und Klimawandel. Seit seinem Studium arbeitet er freiberuflich für verschiedene Printmedien zu übersetzten Literaturen und internationalen Kulturthemen. Es folgten zahlreicher Arbeiten im öffentlichen Rundfunk, auch internationale Radiofeature gemeinsam mit Jane Tversted. Im Jahr 2020 Durchführung des weltweit ersten, mehrtägigen Literaturfestivals zum Thema Klimawandel in der Literatur, danach Gründung des Climate Cultures network berlin e.V., Künstlerische Leitung der Festivals Planet schreibt zurück! 2021 und gegen!blicke 2022 mit internationalen Akteur:innen an der Schnittstelle von Klima, Krise und Kultur. 2023 Gründung der Literaturreihe Literatur Aktion Wedding

Musa Okwonga
Es ging immer nur um Liebe
(Roman), Aus dem Englischen von Marie Isabel Matthews-Schlinzig, mairisch Verlag, Hamburg 2022.

Von Schlägen und Kuchen


Es macht Sinn, aus der Metropole des Kapitals in die Metropole der Kultur zu ziehen, um sich dem Abenteuer des Schreibens zu widmen. Der Londoner Musa Okwonga hat das getan, möglicherweise von Wowereits Stadt-Marketing zur Boheme in Berlin verführt - Arm-Aber-Sexy. Jedenfalls gab er eine kapitalistische Karriere in London auf und zog nach Berlin-Friedrichshain, um eine künstlerische zu verwirklichen. Unter anderem als Musiker, Stadtflaneur mit Handycam, Autor von Fußballbüchern, Essayist in vielen Sparten und digitaler Autor mit inzwischen über 100.000 Followern. Beim Blick auf diese Quote in den digitalen Medien sieht das wie eine gute Wahl aus (Ich bin nach 1 Jahr bei einhundertzwei, aber eher so nebenbei aktiv @mzlections). Wie sich Okwongas Fußballbücher verkaufen, entzieht sich meiner Kenntnis, aber in seinem Roman-Debüt Es ging immer nur um Liebe sieht die Bilanz seines "deutschen Abenteuers" etwas prekär aus.

Es gab nicht immer Liebe in Berlin, sondern auch Hass und Niedertracht, und der Erfolg in der Social-Media-Welt basiert auf Selbstausbeutung und sozialer Isolation. Am Anfang des Romans - und im Nachhinein eines kunstvoll durchgeführten literarischen Schreibprozesses - wird das so reflektiert: "Früher oder später wird Berlin dir einen Schlag in die Magengrube versetzen. Wenn das passiert, versuch bitte, es nicht persönlich zu nehmen - versuch stattdessen, es als einen Stempel in deinem Reisepass anzusehen, als Zeichen deiner Ankunft. Tust du das nicht, kommst du hier nicht weit. Wenn du lange genug hierbleibst, wird dir Berlin einen Kuss auf die Stirn drücken und sich dir von seiner weniger rüden Seite zeigen."
Der Kuss kommt vielleicht, aber sicher kommt der Schlag. Er kommt in Form einer rassistischen Attacke auf den Protagonisten des Romans, der im Text als Du angesprochen wird. Bei seinen Zügen quer durch Berlin spürt dieses Du zunächst weniger die „rüde Seite“ und nicht so viel von jener "schwarzen Schwerkraft", die, so der Text, einen Menschen mit dunkler Hautfarbe immer erfasst, sobald er seine Wohnung verlässt. Das Du lebt sich ein in Berlin, durchstreift die Bezirke, flaniert, spielt mit Freunden Fussball, führt seine Cousine an den Wannsee, geht Essen und zu Datings, die nicht immer erfolgreich sind, weil irgendwann die Bisexualität auf den Tisch kommt, für die potentiellen Partner jeden Geschlechtes ein diffuses Problem.

Die Berliner Kuchen dagegen überzeugen, trotz Zuckerguss, und immer ist er auf der Fährte nach den Spannungsmomenten des Alltags, die sich als Impressionen für die wachsende Leserschaft in den sozialen Medien nutzen lassen. Es versteht sich von selbst, dass diese Berliner Impressionen, auch per Handykamera festgehalten, im Romantext in eine stilvolle Beschreibungskunst verwandelt werden. Hier bleibt Okwongas Neuberliner-Roman erfolgreich in der Tradition des Flaneurs und bietet auch dem Altberliner spannende Blicke in die Stadt. Das Hauptinteresse aber wird durch die psychologische Erkundungsreise geweckt, eine im Du flektierte Selbstanalyse, die sich zunehmend bedrückender mit Depression, Einsamkeit, Versagensängsten und sozialer Deprivation auseinandersetzt.

Der Selbstzweifel des Künstlers nagt an ihm, er kann sich nicht einmal eine London-Reise leisten, wenn seine reichen Freunde dort ihren Vierzigsten feiern, es zieht hinab, aber die Lesenden zieht es nie ganz hinab. Dafür sorgen poetische Interventionen dieser Art: "Gott sei Dank für Berlin. Hier kannst du dich in gleichermaßen einsame Menschen sinken lassen, eine Nacht um die andere; in ihre Arme, ihre Betten. Manchmal, wenn du sie hinreichend willkommen heißt, werden sie sich umschauen, ihre Stimme senken, dann ein fest zusammengeknülltes Taschentuch aus einer ihrer Taschen ziehen, es langsam entfalten und dir die funkelnden Bruchstücke darin zeigen. Schau, werden sie sagen. Das ist zerbrochen worden. Sobald sie das getan haben, wirst du sie sehr wahrscheinlich nie wiedersehen. Du trägst ebenfalls dein zusammengeballtes Taschentuch mit dir herum, tief in deinem Magen, und jeden Monat, wenn sich die Einsamkeit einstellt, fühlt es sich an, als sei das Taschentuch gestohlen worden. Ein Diebstahl, für den du dankbar bist."

Der Roman ist eine Reise in drei Teilen - Teil eins: Ein Migrant aus London zieht auf der Suche nach seinem Platz in der Welt durch Berlin und findet sich selbst, aber das Ich ist ein Trauma. Teil zwei: er begibt er sich auf eine innere Reise mit einem afrikanischen Psychologen, die ihn am Ende mit Voodoo konfrontiert. Teil drei - er reist nach Uganda, wo sich die Wunden seiner Familiengeschichte öffnen im Blick auf die politische Tragödie der 1990er Jahre - Stichwort Idi Amin, und auf die fortgesetzte Diktatur - Stichwort Yoweri Museveni.

Die mühsame Selbsterforschung erlöst, aber sie erlöst nicht ohne Rest. Die Last der Geschichte liegt ebenso schwer auf diesem Du wie die „schwarze Schwerkraft“ des Rassismus in Berlin. Selbsterkenntnis ist im Spiegel des Sozialen möglich und dieser Neuberliner-Roman zeigt uns drastisch, was das derzeit in Berlin sein kann, für eine Person of Color. Aber dem Du im Roman hält der "Berliner Schlag" eine konkrete Lehre bereit – Depression und Selbstverachtung gründen nicht im Individuum. "Es ging immer nur um Liebe" ist eine wahre Geschichte, ein echter Neuberliner-Roman unserer Zeit. Überzeugend ist hier die Wahl der Du-Form, denn im Aussenblick der Spiegelung geraten wir tief in die Abgründe einer radikalen Selbsterforschung, es ist die eines "Fremden in Berlin", der am Ende doch bei einem anderen Ich ankommen wird.

Berlin ist nicht Deutschland heißt das Eingangskapitel, was wohl wahr sein mag, leider hat es aber inzwischen einiges von jenem "rüden" Deutschland, in dem "Fremde" und besonders People of Color gefährlich leben. Es ist der schlimmste Trend der Zeit, ein Besucher aus London sagt im Roman ähnliches: "London ist nicht England, das sich sehr verändert, aber auch London verändert sich". Es ist ein großes Verdienst dieses Romans, den Finger in diese europäische Wunde zu legen.

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