Leselampe

2021 | KW 42

Buchempfehlung der Woche

von Friedrich Haufe

Friedrich Haufe gründete in diesem Jahr gemeinsam mit Gregor Schliep den Schlaufen Verlag, der seine Publikationstätigkeit im Herbst 2022 mit der Reihe „Bildfäden“ aufnehmen wird. Diese soll der Auseinandersetzung mit Bildern im weitesten Sinne ein inhaltlich konzentriertes und gestalterisch ansprechendes Forum bieten. Seit Juli 2021 betreibt der Verlag einen Blog, in dem Texte veröffentlicht werden, die mit dem Konzept der Bildfäden-Reihe in kleinen Formen experimentieren.

Georges Didi-Huberman
Bilder trotz allem
Aus dem Französischen von Peter Geimer, Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2007

Die Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Kunstgeschichte auch um jene Bilder, die außerhalb des Kunstdiskurses stehen, ist nicht nur eine Konsequenz der neuen Bildmedien; vielmehr hat der Einbezug aller Bildgattungen auch eine ethische Dimension. Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre gab es im Fach Kontroversen, die bis zur Spaltung führten, in denen um die sprachlichen und methodischen Kontinuitäten und Diskontinuitäten nach dem Ende des Nationalsozialismus gerungen wurde. Adornos Diktum, Auschwitz habe „das Mißlingen der Kultur unweigerlich bewiesen“ und gezeigt, dass „inmitten aller Tradition der Philosophie, der Kunst“ selbst die „Unwahrheit“ hause, stand im bundesrepublikanischen Raum. Einer der wichtigsten Kritiker seiner Zunft war Martin Warnke, von dem erst seit wenigen Jahren öffentlich bekannt ist, dass er 1964 für die Stuttgarter Nachrichten über die Frankfurter Auschwitzprozesse berichtete. Flucht und Vertreibung jüdischer Kunsthistoriker lasse sich, schrieb er später an seine Kollegen, für die Kunstgeschichte „auch durch den besten Willen nicht wiedergutmachen“. In den folgenden Jahrzehnten trieb er die Wiedergewinnung des Erbes Aby Warburgs maßgeblich voran und gehörte somit auch zu jenen, welche die Auseinandersetzung des Faches erweiterten um Bilder etwa der Propaganda, Presse, Wissenschaft und Technik.
Mit einer Kunst wie derjenigen Anselm Kiefers und Christian Boltanskis kam zwar die Frage, ob und auf welche Weise Kunst und ihre Rezeption nach Auschwitz möglich seien, auch in die Sphäre der Kunsthistoriographie. Doch erst mit der Ausweitung ihres Gegenstandsbereichs erhielt die Problematisierung der eigenen kulturwissenschaftlichen Praxis nach dem „Mißlingen der Kultur“ schärfere Konturen und erneute Dringlichkeit: Wie umgehen mit den Bildern der Shoah? Die übergroße Zahl der Bilder, die wir aus den Konzentrationslagern kennen, entstammen entweder den Archiven der Täter, gerettet von den Opfern, oder den Kameras der Befreier. Regelrecht benutzt wurden sie in Filmen wie Schindlers Liste als Rohstoff einer Bildproduktion, in den Worten von Imre Kertész, „um billigen Kram daraus zu machen“, „eine Art Holocaust-Kanon“ für den „Holocaust-Konsum.“ Claude Lanzmann hingegen griff für seine Dokumentation Shoah nicht auf fotografisches Archivmaterial zurück. Der neunstündige Film besteht vor allem aus Interviews mit Überlebenden, aber auch aus Filmaufnahmen der Schauplätze. Lanzmann ging es bei dieser Entscheidung jedoch nicht nur um eine Abwendung von der Art und Weise, wie mit den historischen Bildern umgegangen wird, sondern darum, sich überhaupt von diesen abzuwenden – suggerierten sie nach seinem Dafürhalten doch eine Vorstell- und Darstellbarkeit des Unvorstell- und Undarstellbaren. Dementsprechend fiel dessen Reaktion aus, als 2001 der französische Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman in dem Katalog Memoire des camps. Photographies des camps de concentration et d'extermination nazis (1933-1999) einen Beitrag veröffentliche, in dem dieser sich mit den vier einzigen überlieferten Fotografien auseinandersetze, die heimlich von Gefangenen des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau gemacht worden waren.
Didi-Huberman schreibt einerseits gegen Lanzmanns Verständnis von Unvorstellbarkeit und Undarstellbarkeit an, andererseits aber auch und ebenso vehement gegen eine andere Form der „Nicht-Beachtung“ des Bildes, gegen einen „Historizismus“, der das Bild „in seinen spezifischen Formen verkennt“, indem er es als Dokument transparent zu machen, „informativer zu gestalten“, es „von allem Nicht-Dokumentarischen“ zu befreien sucht. Er zeigt in seiner Auseinandersetzung mit den Bildern, wie die „blind“, ohne Blick in den Sucher, unter Lebensgefahr gemachten, verwackelten und unscharfen Aufnahmen immer wieder mit einer Reihe von Eingriffen für Publikationen „vorzeigbar“ gemacht wurden.
Noch heute sieht man unkommentiert eines der modifizierten, umfangreich beschnittenen Bilder gleich zu Beginn des Holocaust-Eintrages der deutschen Wikipedia. Leichen liegen über den Boden verstreut, Rauch steigt auf; inmitten der leblosen Körper vor dichtem Qualm sieht man eine Gruppe von Männern, einer von ihnen balanciert zwischen den verstreuten Gliedern, ein anderer schleppt nach vorn gebeugt einen der nackten Leiber über den Boden. Was man nur erahnen kann, wenn man die von Didi-Huberman zitierten, schwer erträglichen Berichte des im „Sonderkommando“ von Auschwitz-Birkenau überlebenden Filip Müller liest, ist das, was auf dem Bild lediglich fragmentarisch zu sehen ist: einer der tiefen Verbrennungsgräben, die von den Häftlingen des „Sonderkommandos“ zusätzlich hinter dem Krematorium ausgehoben und betrieben werden mussten. Der „vorzeigbar“ gemachte Ausschnitt – sprich die Isolierung des aus weiter Entfernung festgehaltenen lückenhaften Einblicks – verdeckt die Bedingtheit der Ablichtung, wodurch der Eindruck evoziert ist, ein ganzes Bild zu sehen und eben nicht nur einen „Fetzen“, der das Ausmaß an Schrecken unsichtbar lässt, unsichtbar lassen musste. Gemacht wurde die Aufnahme eilig von einem der Mitglieder des „Sonderkommandos“ im Verborgenen der geöffneten Gaskammer, deren Dunkelheit vor den Blicken der Aufseher schützte, sodass die Fotografie vor allem aus einer „schwarzen Masse“ besteht, welche den sichtbaren Ausschnitt des Grauens umgibt. Diese Fläche, so Didi-Huberman, „auf der es nichts zu sehen gibt, ist in Wahrheit eine Markierung des Blickfelds, die ebenso wertvoll ist wie alle übrigen Teile der fotografischen Bildschicht.“ Denn sie ist es unter anderem, welche die Aufnahme als Fragment, Bruchstück, losgelösten Fetzen zu erkennen gibt.
Zur Geschichte dieser vier unterschiedlichen Bilder gehört nicht nur deren Entstehung mit einer in das Lager geschmuggelten Kamera, das Herausschmuggeln des Films in einer Zahnpastatube, sondern auch, wie die so dem Grauen abgetrotzten Fotografien durch Verfremdung und Retuschen „wohlmeinender Historiker“ erneut „verschüttet“ wurden. Diese Verfremdung ging soweit, dass man eine andere Aufnahme völlig veränderte. Was auf der Originalfotografie zunächst sichtbar ist, sind schräg gegen das Licht aufgenommene Birken, verwischt und verwackelt durch das gehetzte, verdeckte Fotografieren. Erst mit genauem Blick wird in der linken unteren Ecke fragmentarisch und unscharf eine Gruppe nackter, ausgezehrter Frauen sichtbar, die sich auf dem Weg in die Gaskammer befinden. Nicht nur hat man diesen Ausschnitt isoliert und damit wiederum von seiner Bedingtheit abgelöst, sondern auch Körper retuschiert, etwa ein Gesicht hinzuerfunden; man schreckte selbst nicht davor zurück, Brüste zu modellieren. Die solchermaßen bearbeiteten Bilder kursieren in diversen Publikationen; noch heute enthalten die englischen Wikipedia-Einträge zu Auschwitz und Holocaust eine beschnittene Fassung dieses Bildes, verweisen allerdings auf einen Eintrag zu den vier Fotografien.
Deutlich macht die Auseinandersetzung mit der Geschichte und Phänomenologie dieser Bilder, dass sie nicht mit der gleichen Strenge und Sorgfalt behandelt wurden, wie es im Umgang mit Sprachquellen selbstverständlich ist. Das Unterfangen, die Aufnahmen „zugunsten einer klaren ,Information‘ (dem sichtbaren Zeugnis)“ zu bearbeiten und in dieser Form zu publizieren, unterschlägt nicht nur, dass es sich hierbei um „losgelöste Fetzen“ handelt, sondern, so Didi-Huberman, erweckt überdies den Anschein, als seien diese Fotografien nicht eilig im Dunkel der Gaskammer entstanden, sondern „in aller Ruhe und unter freiem Himmel“, was „beinahe“ bedeute, „die Gefahr zu verhöhnen“, unter der dieser „Akt des Widerstands“ vollzogen wurde. Hierin liegt auch das zentrale Anliegen des Textes. Mitnichten wird in ihm behauptet, die Fotografien stünden für die „ganze Wahrheit“ von Auschwitz. Auch Worte, so wird Giorgio Agamben zitiert, stehen vor der „Unmöglichkeit, Zeugnis abzulegen“. Vice versa bleibt für den französischen Kunsthistoriker in dem entschiedenen Verzicht auf Bildzeugnisse, unter dem Vorzeichen der Undarstellbarkeit und Unvorstellbarkeit der Shoah, ein unhintergehbares Dilemma bestehen: Denn auch die von Lanzmann zu einem Film zusammengeschnittenen Worte, gesprochenen Bilder, aufgenommenen Gesichter und Schauplätze berührten „das Problem der Darstellung im Kern“.
Demgegenüber plädiert Didi-Huberman für eine „Ethik des Bildes“, die sich den Bildern und ihrer Entstehung gegenüber verpflichtet. Nicht zuletzt seien sie als „eine der letzten Gesten der Humanität“ unter kollektivem Einsatz des Lebens aller Beteiligten in der Hoffnung gemacht worden, außerhalb des Lagers werde publik, was geschieht und geschah. Im Lager war unter den Gefangenen bekannt, dass die SS alles Erdenkliche unternahm, um auch sämtliche Spuren dieses Verbrechens auszulöschen. Mit den verscharrten Rollen von Auschwitz, heimlich vergraben von Mitgliedern des „Sonderkommandos“ unmittelbar vor ihrer Ermordung, wurden Texte und auch Verse an eine ferne Zukunft gerichtet als „Erinnerung“ an das, „was sich hier ereignet hat“. Darunter auch die Zeilen: „Sucht überall, grabt jede Parzelle dieses Bodens um.“ Didi-Huberman sieht auch in diesen Worten eine Verpflichtung gegenüber den Bildern formuliert, die „trotz allem“ nicht nur entstanden, sondern auch an uns als „Bruchstücke des Nachlebens“ überliefert sind.
Nach Veröffentlichung des Textes entbrannte in Frankreich eine heftige Debatte, in der Didi-Huberman etwa „Voyeurismus“, „Vergnügen am Entsetzen“ und die Fetischisierung der Bilder vorgeworfen wurde. Der zweite Teil des von dem Kunsthistoriker Peter Geimer übersetzen Buches entstand vor dem Hintergrund eben dieser Auseinandersetzung. In Deutschland hingegen folgte um das Buch selbst keine Kontroverse, dafür aber um Gerhard Richters Zyklus Birkenau. Zunächst entworfen nach der Lektüre Didi-Hubermans als eine Folge gemalter Vergrößerungen der Fotografien arbeitete Richter die Tafeln schließlich in eine Reihe abstrakter Kompositionen um. Die autorisierten Reproduktionen der Leinwandgemälde hängen heute in der Eingangshalle des Reichstagsgebäudes übereinander. Verwiesen sei hier etwa auf Wolfgang Ullrichs kritischen Beitrag Finde Bedeutung! und auf Benjamin Buchlohs Monografie Gerhard Richters Birkenau-Bilder. Doch nicht nur die Frage, ob und wie Kunst nach Auschwitz möglich ist, bleibt bestehen. Auch die Kunstrezeption befindet sich nach dem „Mißlingen der Kultur“ in demselben unauflösbaren Dilemma, dass deren Verneinung „unmittelbar die Barbarei befördert, als welche die Kultur sich enthüllte.“ (Adorno) Der Glaube an Schillers „Zauberkreis des Künstlers“, aus dem der Mensch „rein und vollkommen“ heraustrete, ist der Kunstrezeption unwiederbringlich genommen. Was bleibt und bleiben muss ist die Auseinandersetzung mit den Bildern trotz allem.

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