Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Florian Valerius

Florian Valerius ist Buchhändler in Trier und Bookstagramer: @literarischernerd.
Anlässlich seines 40. Geburtstag in diesem Jahr gab es einen schönen Artikel im Buchmarkt: https://buchmarkt.de/menschen/florian-valerius-40/

Ling Ma
New York Ghost
(Roman), Aus dem Englischen von Zoë Beck, CulturBooks Verlag, Hamburg 2021 (Seit 2022 auch als Taschenbuch im Unioinsverlag).

Januar/Februar 2020. Dank eines Stipendiums von „Bookselling without Borders“ hatte ich die einmalige Chance, nach New York, Baltimore & Washington DC zu reisen, um die dortige Buchhandelsszene kennenzulernen. Vor Ort fragte ich alle Buchhändler*innen natürlich obligatorisch nach ihren aktuellen Lieblingsbüchern. Sehr oft fiel dabei der Titel Severance von Ling Ma. Ma erzählt eine Endzeitgeschichte um tödliche Pilzsporen, die über die Atemwege übertragen werden und die Menschen mit dem „Shen-Fieber“ (welches aus China kommt) infiziert - und zu Zombies werden lässt.

Am Ende meiner Reise kaufte ich mir letztendlich das Buch  bei „Politics & Prose“– ohne mir bewusst zu sein, wie prophetisch das war. Ohne zu ahnen, wie sehr dieser 2018 geschriebene Roman alles vorwegnimmt, was kurze Zeit später weltweit unsere Lebensrealität werden sollte.
Am Flughafen in Washington sah ich sogar ein Plakat: Es wurde gewarnt vor einem Virus aus China. Ich dachte nur: „Seltsame Amerikaner. Seltsame Propaganda….“
Nach meiner Rückkehr las ich den Roman und uns suchte plötzlich Corona heim: Ich hatte am ganzen Körper Gänsehaut und war von der Geschichte absolut geflasht – so sehr glich das Geschehen in Deutschland und in der Welt den Erlebnissen der Protagonistin Candance Chen und dem Verlauf der im Buch beschriebenen Pandemie. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie ich im Bus saß und darüber las, wie in der Firma, in der Candance arbeitete, über das Tragen von Masken diskutiert wurde – ich aufblickte und erste Menschen bereits Masken trugen.

Aber nicht nur dieser Aspekt hat dieses Buch zu einem absoluten Schatz gemacht: Dieser Roman ist SO viel mehr als ein Abbild der Pandemie: Er ist Kapitalismuskritik deluxe, er ist eine Einwanderergeschichte, eine Liebesgeschichte, eine Familiengeschichte und eine „State of the Art“-Erzählung über junge Großstadtmenschen. Eine Meditation über Einsamkeit und Entfremdung.
Müsste ich dieses unvergessliche Meisterwerk irgendwie genremäßig zuordnen, würde ich spontan sagen: Wenn George A. Romero & Sally Rooney ein Baby haben würden - es hieße Ling Ma. Nicht nur der Inhalt ist perfekt, der Horror surreal, die Geschichte ergreifend und berührend - auch der Ton ist irgendwo zwischen lethargisch, stoisch, melancholisch und so dermaßen anders, dass ich keine Worte dafür finden kann. Ihr müsst es selbst erfahren.

2021 erschien der Roman dann - kongenial von Zoe Beck übersetzt – unter dem Titel New York Ghost im CulturBooks Verlag – ich las ihn erneut und wünsche mir, dass er noch viele, viele, viele Leser*innen finden und berühren wird.

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