Feuer der Oligarchie!

Wenn ich aus dem Haus gehe, auf den Rustaveli-Boulevard, zum traditionellen Ort der Demonstrationen und Kundgebungen in Tiflis, muss ich am alten Rathaus vorbei. Jetzt, da die Proteste seit dem 28. November 2024 täglich stattfinden – bei Regen oder Schnee, zu Weihnachten, an Neujahr und zu Ostern ununterbrochen, – stehen vor dem alten Rathaus viele Polizisten. Die grüßen mich freundlich, weil sie mich kennen. Und ich, als höflicher Mensch, nicke zurück. Dabei stelle ich mir vor, wie sie zu späterer Stunde Sturmhauben überziehen und mich brutal zusammenschlagen, eben genau darum – weil sie mich kennen. Das ist die Absurdität, in der wir leben.

Die Demonstrant·innen skandieren „überall Polizei – nirgendwo Gerechtigkeit!“ Täglich gibt es Demonstrationszüge. Sie alle starten an verschiedenen Plätzen in der Stadt und enden auf dem Rustaveli-Boulevard, vor dem Parlamentsgebäude. Dort wartet dann eine Menschenmenge ungeduldig auf die anderen, die mit den Demonstrationszügen hinzukommen.

„Wo sind sie, warum sind sie so spät dran, vielleicht hat die Polizei sie aufgehalten?“, fragen sie ungeduldig. Die Wartenden atmen erst auf, wenn man sie dann kommen sieht oder hört, besonders dann, wenn Tako über das Megafon mit ihrer singenden Stimme „Keine Gerechtigkeit, kein Frieden!“ oder „Georgien, stehe auf, lehne Dich auf!“ anstimmt. Tako ist eine junge Ärztin. Fast jeden Tag marschiert sie vom Gebäude des sogenannten „öffentlich-rechtlichen“ Rundfunks aus (das komplett unter der Kontrolle der Regierungspartei „Georgischer Traum“ steht und vor dem auch täglich Proteste stattfinden) Richtung Rustaveli. Es ist ein Wunder, dass auch nach so vielen Tagen ihre Stimme nicht versagt. Sie gilt als die Stimme der Proteste.

Wenn sich der Menschenzug dem Ziel nähert, drehen sich die Menschen vor dem Parlament in Richtung der Ankommenden und schalten die Lichter ihrer Telefone ein. Und auch die Marschierenden schalten ihre Lampen ein. Die Menschen freuen sich über die vielen Gleichgesinnten, umarmen einander, fragen nach dem Befinden. Doch nicht immer ist die Stimmung freudig und optimistisch. In solchen Momenten kommt mein Freund Mamuka auf mich zu, ein Diplomat, der seinen Job verloren hat, so wie Tausende andere Beschäftigte im öffentlichen Dienst, die der Generallinie des Georgischen Albtraums nicht folgen wollen. Er flüstert mir ins Ohr: „Wir müssen Optimismus ausstrahlen.“ Wir lachen – und strahlen Optimismus aus.

Am Anfang versuchte die Bande, die die Macht an sich gerissen hat, mit Gewalt, mit Schlagstöcken und Tränengas den Protest zu unterdrücken. Aber der Widerstand wuchs nur weiter an. Jetzt versuchen sie, den Protest finanziell zu erwürgen. Wegen „Eingriffs in den Straßenverkehr“ bekommen die Protestierenden Strafen in Höhe von 5.000 Lari (1.600 €) verordnet,  die das durchschnittliche Monatsgehalt der Menschen um das Mehrfache übersteigt. Wir gehen vor Gericht, obwohl wir keine Hoffnung auf Gerechtigkeit haben. Alles ist schon gleichgeschaltet. Deswegen gibt es noch eine weitere populäre Losung, die skandiert wird: „Ungerechte Gerichte – habt Angst von der Kraft des Volkes!“

Es wurde ein Rechtshilfe-Fonds gegründet, der Geld sammelt zur Abzahlung der Strafen und für Unterstützung für die  Familien der politischen Gefangenen. Aber vor kurzem hat der Staat die Konten dieses Fonds eingefroren. Wer kann es sich jetzt noch leisten, die 5.000 Lari mehrmals zu bezahlen? Wer einmal von einer chinesischen Überwachungskamera erkannt wurde, wird dann von anderen Kameras wiedererkannt und man kann unzählige Strafzettel bekommen. Deswegen tragen viele Leute jetzt Masken oder zumindest Pappnasen.

Manchmal sieht die Demo aus wie ein Karneval, obwohl inzwischen jegliche Vermummung verboten ist. Fast jeden Tag verabschiedet das Einparteienparlament ein neues Gesetz, das noch drakonischer ist als das vorangegangene.

Alle Generationen sind bei den Demonstrationen. Viele Menschen bringen von zu Hause Essen und Snacks mit und verteilen sie unter den Anderen. Voriges Mal habe ich erlebt, wie eine ältere Dame, die wie meine Oma aussah, selbstgebackene Chatschapuri verteilt – und die schmeckten auch genauso wie die von meiner Oma.

Die Gesellschaft hat sich verändert, ist solidarischer geworden. Die Demo ist zu einem Ort der Gleichheit geworden. Man trifft dort die Schauspieler·innen, Schriftsteller·innen, Professor·innen, Fernsehstars, Menschen die man zuvor nur aus der Ferne gesehen hat, und jetzt stehen alle gemeinsam da und besprechen die Lage, diskutieren miteinander, schließen Freund·innenschaften. Es herrscht ein unvergleichliches Gemeinschaftsgefühl.

Jene, die vorgeben, zu regieren, verstehen nicht, warum sich die Menschen immer noch versammeln, warum sie keine Angst haben – und wenn sie doch Angst haben, warum sie dann trotzdem noch auf die Straße gehen. Warum zeigen die Repressionen keinen Erfolg? Warum hört das alles nicht auf? Vielleicht haben die nicht gelesen, was auf der Wand des Parlaments gesprüht stand, bevor sie befohlen haben, alle Graffitis zu entfernen: „Gib niemals auf, kämpfe! Dieses Land ist unser!“

Sonntag, d. 4. Mai, 158. Tag des täglichen Proteste.

Übersetzung: Lasha Bakradze