Ein davongeflogenes Stück Unsterblichkeit

Die Stadt bleibt stumm, wenn ich aus ihr wegfahre. Meine Mutter ist nicht mehr da, um ein Glas Wasser hinter meinen Schritten auszuschütten, wenn ich das Haus verlasse, auf dass meine Reisen so leicht und klar dahinfließen wie ein unentdeckter Fluss. Ich habe ihr nicht gesagt, dass ich in den Atlanten immer nur nach den unterirdischen Flüssen suchte, anhand derer ich das Relief der Unterwelt erkennen konnte, die niemand auf den Karten verzeichnen wollte, sondern die nur in Mythen oder Träumen als Bestrafung für jene existierte, die den Gipfel der genormten irdischen Ideologien nicht erreichen würden. Nach zwanzig Jahren ständiger Abwesenheit kehrte ich ins heimische Strumica zurück, stumm angesichts der eigenen Angst vor Beständigkeit. Dieselben Bäume, andere Denkmäler, neue lokale politische Helden, die über dieselbe Zukunft sprachen, die nie eintreten wird. Oft gehe ich am Kanal vorbei, der einst Hauptschlagader der Stadt war, die das Geröll, die Geheimnisse der nächstgelegenen Hügel, wann immer es stark regnet, durch sich hindurchschleust. Die Angst vor Überschwemmungen sorgte dafür, dass die Straßen breit und ohne dichte Bebauung blieben, so wie die Pandemie dafür sorgt, dass die Plätze von politischen Kampagnen und Meetings verschont bleiben. Ich kehrte in meine Kindheit zurück, wo die Ausdehnung der Zeit keine Verschwendung des Lebens war, sondern die reine Suche nach selbigem. Hielte ich eine Sanduhr in Händen, ich würde über das Rieseln des Sandes sprechen, nicht über die Zeit.

Oft träume ich von meiner toten Mutter, wie sie mit Tüten voller Obst vom Markt zurückkommt, doch ich renne auf die Felder mit den Aprikosenbäumen zu. Mein Vater putzte vor einigen Tagen mit ihrer alten Zahnbürste den Rahmen um ihr Foto auf dem Grabstein und die Buchstaben seines eigenen Namens, den er vorher direkt neben ihren hatte eingravieren lassen. Der Sozialismus hat ihn gelehrt, alles vorauszuplanen, selbst den eigenen Tod. Mein Sohn wiederum, der mit den Konstanten der virtuellen Existenz aufgewachsen ist, stellte mir die Frage, warum die Straße, in der er lebt, „Nikola Tesla“ heißt und die dunkelste in der Stadt ist und warum das Schild mit dem Namen des Schöpfers des Lichts an einem verfallenen Gebäude angebracht ist, in dem die Dunkelheit zu Hause ist? In seinen Augen sah ich meine eigenen Fragen an die Welt zu Dynamik, zu Zweifeln und Ängsten. Gerade die Angst vor Krankheit brachte die Menschen zurück in die Städte ihrer Geburt, mit dem Gedanken, dass sie hier sicherer wären, doch sind sie nur näher bei dem Grab, in dem sie beerdigt werden wollen. Hier beerdigt, der Kopf zeigt nach Jerusalem, nach Osten, auch wenn sie ihr ganzes Leben lang den Blick nach Westen gerichtet haben. Die Parlamentswahlen kommen näher, und man wird wieder darüber sprechen, zu welcher Seite der Welt der Westbalkan gehört, abseits seiner geographischen Koordinaten. Doch diesmal wird die Pandemie die Plätze von den Lügen säubern.

Wenn ich jetzt am leeren Kanal vorbeigehe, der von Gras überwachsen ist, würde ich gern am Himmel über ihm alle Drachen nachzeichnen, die wir hier als Kinder steigen ließen, ohne Angst, dass sie für immer an den Fernsehantennen hängend enden würden, die sich wie die Rippen eines gekreuzigten Ungläubigen von jedem roten Dach erhoben. Das Schreiben ist nur ein Versuch einer Annäherung an die Dinge, die wir aus dem Blick verloren haben, die unserem Denken jetzt ferner liegen, auf die Art und Weise, auf die wir glauben, dass uns das krampfhafte Umklammern des Stückchens Schnur den davongeflogenen Drachen wiederbringen wird, das davongeflogene Stück Unsterblichkeit.

Übersetzung: Alexander Sitzmann