Leselampe

Buchempfehlung der Woche

von Dilek Mayatürk

Dilek Mayatürk ist Lyrikerin und Dokumentarfilmerin. Sie wurde 1986 in Istanbul geboren und studierte an der Mimar-Sinan-Universität sowie der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Soziologie. Seit 2019 lebt und arbeitet sie in Berlin. 2020 ist ihr Lyrikband Brache bei Hanser Berlin erschienen.

Yan Lianke
The years, months, days
(Novelle), Aus dem Chinesischen von Carlos Rojas, Vintage Penguin Books, London 2021 & "The Years, Months, Days, Two Novellas", Grove Press, New York 2017)

The Years, months, days des chinesischen Schriftstellers Yan Lianke ist der beeindruckendste und auch erschütterndste Text, den ich in vergangenen Jahren gelesen habe. Aber nicht nur das. Das Buch ist der erste Prosatext, der mich mit einem Kloß im Hals und Tränen in den Augen zurückließ.


Eine gigantische Dürre, tödliche Hitze. Ein Dorf, dessen Bewohner fliehen. Ein 72-jähriger Mann und sein blinder Hund namens Blind. Als einziger weigert er sich, das Dorf zu verlassen, trotz des unvermeidlichen Endes. Dann findet er Maissämling – und er verwandelt die Plage in Widerstand.


Yan Lianke erschafft in The Years, Months, Days mit erstaunlich wenigen Elementen (Mann, Hund, Sonne, Sämling) eine ebenso karge wie literarisch reiche Welt, in der sich Tristesse und Freundschaft, Hoffnung und Widerstand treffen. Dass diese Welt so gelingt und so glaubwürdig ist und wie gut sich diese wenigen Elemente zueinander fügen, kann man in jedem einzelnen Satz lesen. Um aus einer so reduzierten Handlung, fast ohne Figuren und ohne jede Effekthascherei so große Literatur zu schaffen, bedarf es großen Können – und einer unendlichen Fantasie.


Es ist eine große Lesefreude, den von Yan Lianke erschaffenen Assoziationsraum abzuschreiten. Im Buch gibt es keine Floskel, kein unnötiges Wort. Durch diese charakteristische Eigenschaft gleicht die Novelle einem berührenden, langen Gedicht. Ganz besonders gut gelingt es Yan Lianke, Sinneswahrnehmungen präzise und lebendig zu schildern: Beim Lesen glaubt man, die brennende Sonne auf der eigenen Haut zu spüren oder die verschiedenen schlechten Gerüche in der eigenen Nase zu riechen, die im Buch immer wieder vorkommen. 


Obwohl am Ende des Buches der Protagonist und sein Hund sterben, denkt man nicht, dass sie versagen. Im Gegenteil: Sie haben es geschafft. Mit einem Maissämling.


Ich habe diese Novelle in der türkischen Übersetzung gelesen – und war sehr überrascht festzustellen, dass das im Original bereits 1997 erschienene Buch auf Englisch, jedoch nicht auf Deutsch vorliegt.