LCB






"Wie kindisch ist es, dass wir, solange noch ein Funken
Leben in uns ist, unbedingt losstürmen müssen,
die Sonne von der anderen Seite zu sehen?"
Elizabeth Bishop,
Reisefragen


REISEN

Nachdem sie von ihren Reisen zurückgekehrt sind, werden die Geförderten aufgefordert, Bericht zu erstatten, über die Recherchen zum Projekt, zum Film, zum Buch, zur Ausstellung oder Radiosendung. Darüber, wie und ob die eigene Recherche geglückt ist oder nicht. Die Institution ist an den Ergebnissen Ihrer Recherchen interessiert und erwartet einen inhaltlichen Nachweis.

Anlässlich des Endes des Programms wurden zwei Geförderte ausgewählt und gefragt gebeten engagiert, eine Rückschau zu versuchen. Beziehungsweise in den umfassenden Fundus der Rückschauen aller bisher Geförderten, deren Berichte an die Institution, hineinzugehen, zu lesen und zu kuratieren.
Ließ sich recherchierend etwas herausfinden über die Verhältnisse, die die Geförderten für ihre Arbeit interessierten?

I. ANKUNFT

„Die Landschaft ist bedeutend karger, als ich sie mir vorgestellt habe. Die Landschaft ist nicht imposant. Die surreale Landschaft ist von Dampfschwaden, schwefelgelben Fumarolen und kochenden Schlammtöpfen überzogen. Wie das Riesengebirge, aber von strenger, borealer Schönheit und in diesem sonnigen Herbst von eigenartigem Reiz: Überall blühten Ebereschen wie rote Korallen inmitten der mürben Hochmoore und goldenen Wälder. Ich kenne die Hässlichkeiten und die Schönheiten dieser Landschaft oder mehr: ich kenne sie nicht nur, ich habe sie im Gefühl meiner Fingerspitzen. Ich war jeden Tag von morgens bis abends unterwegs. Ich war damit konfrontiert, dass nicht eingeplante Geschichten und sogar lebende Menschen mein Projekt und meine Geschichte radikal veränderten. Warum bist du hier gelandet? Wie konnte es dazu kommen und was war auf deinem Weg wichtig? Der weite Himmel über der Straße vermittelt auf eigenartige Weise die Stimmung von Aufbruch, ja Verheißung.“

Ansicht einer Großstadt aus einem Hochhausfenster

Die Geförderten gehen in die Berichte an die Institution hinein und kommen am Bahnhof, am Grenzübergang, am Flughafen, am Fernbusterminal, am Taxistand, an der Gangwaytreppe wieder heraus und befürchten, gemeinsam mit denen, die sie lesend begleiten, trotz all der Erfahrungen, die sie gemacht haben werden, mit leeren Händen nach Hause zurückkehren zu müssen. Oder mit Händen, die zwar voll sind, aus denen sich das Gesammelte aber niemandem überreichen lässt, ohne sich bis zur Unkenntlichkeit zu verwandeln, aufzulösen in Nichts.

Die Geförderten fragen sich, im Angesicht des Ortes, an dem sie angekommen sind, ob es nicht eigentlich, in Wahrheit, eine Arbeit über die eigene Vorstellung ist, die sie machen wollen, machen wollten, über ihre Idee von dem, was sich jetzt komplex vor ihnen auftut. Woher kam diese Idee? Und müsste sie nicht vor der konkreten Erfahrung vor Ort in Schutz genommen werden? Wäre man nicht viel besser zuhause geblieben, wo man sich diese Vorstellungen gemacht hatte, um ihnen nachzuspüren? Welche Art von Gepäck1 haben die Geförderten auf ihre Reise mitgebracht, ohne es selbst gepackt zu haben?

II. VORANKOMMEN

„Ich nahm mir die Zeit um die Stadt ausführlich zu erkunden, abzulaufen, um mich an den Klang der Sprache wieder zu gewöhnen und die ersten nützlichen Kontakte zu knüpfen. Ich bin durstig und erschöpft über Bergrücken gewandert, wurde von Hornissen verfolgt und habe einen Skorpion über meinem Bett gefangen. Ich lief die Grenze ab, saß stundenlang an den Grenzübergängen und tat nichts anderes als sehen. Für die Fahrten benutzten wir den Bus oder das Auto der Übersetzerin. Am Straßenrand immer wieder Quellen, an denen man Wasser abfüllen kann. Keine Raststätten, dafür viele Tankstellen. Überall wurden moderne Hochhäuser hochgezogen, die Fassaden glänzten und in der Innenstadt wurden die Straßen und die Bänke zweimal täglich nass gewischt. In dem Dorf selber, das wir nach einer holprigen Fahrt über löchrige Straßen entlang unendlicher, blühender Felder erreichten, erinnerten sich die Frauen auf den Bänken vor ihren Häusern nur sehr sporadisch an die deutsche Vergangenheit des Dorfes. Auf den Fahrten erlernte ich, per Kassettenkurs und auch von Studenten, zumindest ein paar rudimentäre Höflichkeitsausdrücke in der fremden Sprache, eine Beschäftigung, die ich gerne fortsetzen möchte. Das Auto ist wichtig. Der Wind beugt die Bäume.“

Silhouette einer Person vor reklektierender Fläche

Die Geförderten verwenden die verschiedensten Fortbewegungsmittel, um sich an den Orten ihrer Recherchen zu bewegen.

Ein nicht unerheblicher Teil erfährt die Landschaften und Länder im wahrsten Wortsinn im Auto, gut eingeübt in den Blick durch die Fenster, die Aussicht2 aus der behaglichen Abgeschlossenheit des Innenraums. Die Orte der Recherche ziehen vorüber, Kontemplation, das eigene Dahinrollen in der Rolle der Reisenden. Aussteigen, Fotografieren, Sprechen, Einsteigen, Weiterfahren. Das Auto als das superlativische Wohnzimmer, sitzend in Bewegung sein, die Freude, sich vollkommen einzuschließen, über einen absolut begrenzten Raum zu verfügen.

Andere gehen auf ihren Füßen durch die Straßen der Städte, über Grate und durch Steppen, geführt, auf eigene Faust, ohne Ortskenntnis, einem inneren Kompass folgend, auf den Spuren derer, die sie interessieren, den noch frischen oder fast schon ganz verwehten Fußabdrücken ihrer Vorgänger. Sie sind die Flaneure der Vergangenheit, Unzeitgemäße in Gegenwart und Zukunft, Bildungsreisende, Wandernde durch Brauchtum, Volkslied3, Tradition, Tracht, Urbanisierung. Beim Ausruhen auf der Caféterrasse beobachten und notieren, aushalten, dass nichts passiert. Serendipität: es kommt auf die, die nichts erzwingen, von sich aus zu.

III. POLITIK UND PROSA

„Vorweggenommen: Ich hatte nicht mit dem Land gerechnet, das mich erwarten würde. Das inhaltliche Konzept meines Romans verschiebt und ändert sich während des Schreibens und auch im Laufe der Recherche andauernd. Abends und nachts schrieb ich, um die vielen Eindrücke eines Tages zu bündeln, ein Tagebuch, aus dem ich das, was zu einer Prosa gehört, wieder strich. Möglichst ohne literarische Finessen, allein auf den Sachverhalt konzentriert wiedergeben – ganz im Sinne von Brecht -, um so den dokumentarischen Charakter als einen wichtigen Strang im Buch zu bewahren. Und je detailliertere Erfahrungen ich sammelte, desto mehr hatte ich das Bedürfnis, im Text universeller zu werden und die Herkunft meiner Erfahrungen zu verschleiern. Einmal bin ich mit einem Kopftuch durch die Stadt gegangen. Ich erlebte eine andere Stadt. Andere Menschen sahen mich an; sahen mich anders an.

Womit identifiziert sich der Mensch hier wie dort, was will er, welche Mentalität macht ihn aus? Reichte es, die maßgeblichen Stationen des Geschehenen und Geschehenden zu erfassen, die Entscheidungsträger in der neuen Politik – die keineswegs neu, sondern nur die Heraufbeschwörung eines alten Systems ist – zu charakterisieren und ihre Propaganda, ihre drastische Sprache mit den drastischen Folgen zu schildern? Das waren nicht bloß stilistische Fragen.

Es gibt etwas, das einem an der Oberfläche erzählt wird, das man auf den ersten Blick sieht -, aber darunter liegt eine ganz andere Geschichte. Als Autorin reizt es mich natürlich, dieser Geschichte auf die Spur zu kommen. Ich habe auf meiner Reise sehr viel gefunden und das Deutschsein verloren.“

Eine grüne Fläche von Wasser bedeckt

Die gelebte Geschichte, die Erfahrung, dort, am Ort der Recherche verwickelt zu sein in die Systeme und Phänomene, in die Verhältnisse und Widersprüche, ist den Geförderten nicht durch ihr Dortsein allein unvermittelt verfügbar. Sie haben aber den Anspruch, ihre Förderung dazu zu nutzen, einen Eindruck auch von den Legenden und Überlieferungen zu bekommen, von der inoffiziellen, oralen Historie, dem was nicht in den Büchern und Broschüren steht, was nicht auf den Postkarten, Kaffeetassen, T-Shirts, Kühlschrankmagneten in den Souvenir4-Shops den Touristen als Außendarstellung verkauft wird. Sie legen hierbei ihre Hoffnung in die sprechenden Menschen, die ihnen ihr Leben näherbringen sollen. Das Wissen der Erzählenden und ihrer Vorfahren, ihre Zeitgenossenschaft und ihre Abstammung von Genossinnen und Genossen vergangener Zeiten, ist der Schatz, der für die Geförderten im Gespräch zu heben ist. Das Erzählen ist die eigentliche Führung der Fremden durch die Fremde.

Die Geförderten stehen vor dem Widerspruch, einerseits planen zu müssen und andererseits planlos sein zu wollen – die Themen, ihren Gegenstand zu benennen, Treffen und Gespräche zu organisieren, und gleichzeitig etwas finden zu wollen, das sie nicht vorher schon gesucht und gekannt haben. Etwas anderes zu sehen als das, was man sehen will oder zu sehen erwartet, etwas noch Unbekanntes, das nicht schon von vornherein auf die Reise und den Ort projiziert wurde. Sich also suchend eine Richtung zu geben und dennoch offen zu sein nach allen Seiten.

Von dieser paradoxen Position aus stellt sich die Realität, der die Geförderten begegnen, nicht selten selbst als widersprüchliche dar: überschattet von den konkreten Auswirkungen abstrakter politischer Verhältnisse. Andernorts, wo alles mit dem Kontrastmittel des Unbekannten versehen wird, tritt die Politik unweigerlich als alles durchwirkende Kraft in aller Deutlichkeit hervor. Wo sie nicht eh schon explizit Thema der Exposés und Recherchevorbereitungen waren, wandelt sich die Arbeit, die sich die Geförderten vorgestellt haben und für die sie gefördert wurden, unter dem Eindruck der politischen Verhältnisse vor Ort. Es entsteht das Gefühl einer Verpflichtung gegenüber diesen Verhältnissen, die die Arbeit im Wortsinn verfremdet, während sich die Geförderten den Gegebenheiten der Fremde annähern.

IV. RÜCKKEHR

„Die Aktivitäten dieser Reise bestanden vor allem darin, sich dort aufzuhalten, wo weniger Menschen als Tiere zu finden sind. Man kann hierin eine politische Bezugnahme lesen, sie wird aber nicht explizit ausgesprochen. Wir fanden die Droppings von Knysna-Elefanten, die in den sozialen Netzwerken auf großes Interesse stießen. Aber auch andere unerwartete Funde habe ich in Kiew gemacht. Natürlich sind all dies sensible Themen, und ich werde bei der Arbeit am Film höchste Aufmerksamkeit darauf legen müssen, dass diese Themen auch mit der nötigen Sensibilität angesprochen und dargestellt werden. Wir hatten die Auswirkungen dieser Erlebnisse auf uns unterschätzt. Es wird in diesem Zusammenhang sicher durch neue Eindrücke einige Abweichungen vom Ursprungskonzept geben, was das Inhaltliche angeht, aber ich kann diese noch nicht genauer spezifizieren. Es war wie bei einer Reportage: Am Ende braucht man 15 % des recherchierten Stoffes. Man weiß nur nicht, welche 15 % das sein werden. Es war eine sehr aufregende Zeit.“

Ein lila Perlenvorhang vor einer Straßenansicht

Die Geförderten kehren an den Ausgangspunkt ihrer Reisen zurück. Sie setzen sich an den Schreibtisch, den Computer, das Schnittprogramm, ins Tonstudio, gehen in ihr Atelier, ihre Dunkelkammer, um das Material, das sie gesammelt haben, zu entwickeln. Ließ sich der Ort, ließen sich die Eindrücke, die Bilder, Gespräche und Geschichten mit nach Hause bringen? Hat man, im Leben, im Beruf, in der Kunst, als Geförderte vor Ort, das richtige Medium gewählt, um die eigene Erfahrung aufzuzeichnen, zu transportieren und weiter zu verarbeiten?

Nach ihrer Rückkehr laufen die Geförderten für eine Weile als Veränderte durch die bekannten Straßen. Das Vertraute erscheint ihnen seltsam fremd, als wären sie von diesem Fremdsein, das nun alles Bekanntgeglaubte befällt und infiziert, selbst auf ihrer Reise befallen und infiziert worden und hätten es in ihre vertrauten Verhältnisse eingeschleppt. Sie versuchen, an den Punkt zurückzugehen, von dem sie aufgebrochen sind, abzugleichen und auszuwerten, was von den Vorstellungen übrig geblieben ist. Der notwendige Gang am Ende der Recherche ist der zurück in die Vorstellung, die Vision, den kreativen Prozess, angereichert und beschwert von der Erfahrung des Unterwegsseins, dem Gefühl der Verantwortung gegen die Personen, die Auskunft gegeben haben, die Orte, die angeschaut wurden, die Authentizität, den Bericht aus erster Hand.

1. Gepäck

April 2020: Italien trauert. Für eine kurze Zeit spricht Deutschland über Pflegearbeit. Kultur, Kunst, Kino, Klub – abgesagt. Auf allen Kontinenten der Erde schließen sich die Ländergrenzen, Flieger und Züge stehen still. Merkwürdig jetzt an einem Essay über das Reisen zu basteln.

„Reisen“, das hat einen unwillkürlich romantischen Klang, der in die globalisierte Welt irgendwie nicht mehr ganz reinpassen will. Eine Welt, in der die ständige Verfügbarkeit von Last-Minute-Trips in westlichen Ländern der Abwehr von Einwanderungsströmen gegenüber steht. Reisen ist jetzt ein Privileg. Aber das war es schon immer. Meine deutsche Staatsbürgerschaft, mein kaukasisches Aussehen und mein nordeuropäischer Nachname sind wie ein internationaler VIP-Pass. Weitestgehend unbürokratisch gewährt er mir Zutritt auch in solche Länder, deren Bevölkerung ungleich schwieriger – oder gar nicht – nach Deutschland einreisen kann.

Wie gehe ich mit diesem Privileg um? Wie gehe ich mit der grausamen Geschichte um, die diesem Privileg voranging? Und was haben die (westlichen) Geistes- und Naturwissenschaften, Kunst- und Kulturgeschichte in meinem Gepäck mit dieser Geschichte zu tun? [zurück]

2. Aussicht

Mai 2020: Das Kino ist jetzt ein virtueller Ort. Das Arsenal3 zeigt „Amy“ von Laura Mulvey und Peter Wollen. Mit dem Geräusch eines Flugzeugmotors unterlegt reist die Kamera über eine Landkarte, überquert Ländergrenzen, von Zentraleuropa immer Richtung Osten. Tägliche Schlagzeilen, die unter anderem vom Beginn des Unabhängigkeitskampfes Indiens von der Britischen Kolonialherrschaft berichten, begleiten den Flug von Amy Johnson. Amy, die Pilotin, die Pionierin. Ihr Alleinflug von England nach Australien macht sie weltberühmt.

Juni 2020: Italien lädt zum Urlaub ein. Für eine kurze Zeit spricht Deutschland über Rassismus. In Bristol stoßen Aktivist*innen eine Statue vom Podest. Ich will etwas Inspirierendes über das Reisen und das Recherchieren schreiben – Bildungsreise, Erkenntnisreise, Reiseromantik… Wieso habe ich immer Goethe im Kopf? Vor meinem inneren Auge sieht er aus wie der Mann in Caspar David Friedrichs Gemälde, der elegant von einem Felsvorsprung ins Tal hinabschaut. Statuen stehen auch oft an solchen Plätzen. Plätze, die ihnen Ausblick gewähren. Schöne Aussicht für steinerne Männer. Sie schauen herab auf die Landschaft, die Stadt, das Viertel. Wir schauen zu ihnen hinauf. Wo es notwendig ist, hilft ein Sockel dabei. So wie damals im alten Hollywood dem kleinen Bogart, der großen Bergmann in die Augen zu sehen. Schöne Aussicht für schwarz-weiße Männer.

Ich tauche wieder ab in die virtuellen Weiten. Öffentlicher Raum, maximaler Abstand. Keine Ansteckungsgefahr. Wo wollte ich nochmal hin?
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3. Volkslied

Juli 2020: Das Kino findet jetzt wieder im Kino statt. Das fsk zeigt „Sunburned“ von Carolina Hellsgård. Eine weiße, deutsche Familie – Mutter, Tochter, Tochter – verbringt den Urlaub in einem Hotel in Spanien. Das jüngere Mädchen befreundet sich mit einem gleichaltrigen Strandverkäufer, der seine Familie im Senegal zurück gelassen hat. In die entgegengesetzte Richtung überquerte Amy Johnson den afrikanischen Kontinent von Europa aus auf ihrem zweiten Alleinflug. Sie landet 1932 in Kapstadt – dem Jahr, in dem die südafrikanische Sängerin und Bürgerrechtlerin Miriam Makeba geboren wird. 2016 bringt mir Babalwa im Xhosa-Sprachkurs das traditionelle Lied „Qongqothwane“ bei, das Makeba als „Click-Song“ international bekannt gemacht hat. Nicht weit vom Unterrichtsort haben Aktivist*innen 2015 eine Statue vom Podest gestoßen. Auf den symbolischen Fall des steinernen Kolonialisten, der vom Universitätscampus den Hang des Tafelberges herab schaute, folgt der eigentliche Kampf: die Studierendenproteste um Chancengleichheit und um die Dekolonisierung des Bildungssystems halten auch ein Jahr später noch an. Schüler*innen protestieren ebenfalls: gegen die Diskriminierung in der Schule durch Verbote von Afros und dem Sprechen von isiXhosa. [zurück]

4. Souvenir

August 2020: Was habe ich von meiner Reise mit den Grenzgänger*innen, meinen Reisen nach Kapstadt mitgebracht? Auf die Bewegung von hier nach dort folgt die Bewegung von dort nach hier. Und der Blick wandert mit. Ein Blick, den ich auf ein Land gerichtet hatte, in dem Kinder Schuluniformen tragen – anders als hier. Und auf ein Land, in dem Kinder ihre Muttersprache in der Schule nicht sprechen durften – anders als hier?
Es gibt auch deutsche Kinder, deren Mehrsprachigkeit im hiesigen Schulsystem keinen Wert hat. Es gab sie beispielsweise als Kinder von Eltern, die man als „Gäste“ eingeladen hat. (Aber nicht in den Urlaub, sondern damit sie Arbeit erledigen, die die Deutschen nicht machen wollten. Und nicht ins Hotel, sondern in Stadtteile, in denen die Deutschen nicht wohnen wollten. „Gäste“ hießen sie eigentlich nur, weil sie nach der Arbeit wieder gehen sollten…) Und es gibt sie auch heute in meiner Berliner Nachbarschaft. Dem Stadtteil, in dem mal keiner wohnen wollte. Auf frisch renovierten Spielplätzen und grünen Wiesen spielen sie: Kinder, die nachmittags aus den benachbarten Schulen mit dem schlechten Ruf kommen. Und Kinder, deren Eltern so aussehen wie ich.

Wer hört „Goethe“ und fühlt sich zuhause? Wer hört „Reise“ und fühlt sich romantisch? Wer entdeckt eine Plattform und betritt sie unbefangen?
Die Idee, dass Reise, Bildung und ein edler Charakter zusammen gehören, hat noch ein anderer Mann auf einem Podest geprägt. „Man kann nicht erwarten, dass er ganz frei von Eurozentrismus gewesen wäre“, erklärt der Humboldt-Experte. „Sicher hat er einiges getan, was aus heutiger Sicht inakzeptabel ist. Aber im Vergleich mit anderen Reisenden war er seiner Zeit weit voraus!“ Denn Humboldt schrieb: „Zum Weltbürger werden heißt, sich mit den großen Menschheitsfragen auseinanderzusetzen: sich um Frieden, Gerechtigkeit, um den Austausch der Kulturen, andere Geschlechterverhältnisse oder eine andere Beziehung zur Natur zu bemühen.“

Was ist daraus geworden? Die einen sind die „Bürger(*innen)“, die anderen sind die „Welt“. Die einen haben 2020 erstmals angefangen, darüber nachzudenken, die anderen stürmen die Plattformen. Die, die eine schöne Aussicht erlauben? Es wäre an der Zeit. [zurück]

GESAMTKONZEPT: Denningmann/Ehrlich I-IV Zitate: Collage aus Berichten von Geförderten des Grenzgänger*innen-Programmes I-IV Text: Roman Ehrlich 1-4 Fussnoten: Marlene Denningmann VIDEOAUFNAHMEN: Anh Trieu (Video 1+2), Ivan Marković (Video 3), Michael Disqué (Video 4), Stefanie Schweiger (Video 5) TITELBILD OBEN: Stefanie Schweiger HINTERGRUNDBILD UNTEN: Ivan Marković SPRECHER/INNEN VIDEO 1: Denningmann/Ehrlich

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