Türkisch-deutsche Kultur :
Gegen die Kränkung, die uns in den Kleidern steckt

Von Aras Ören
Lesezeit: 7 Min.
„Auch ich kam zurück in die bürgerliche, die intellektuelle Sphäre“: Aras Ören in seiner Wohnung in Berlin-Wilmersdorf.
Ich habe die Türkei nach Deutschland gebracht: in meinen Gedichten. Vieles ist besser geworden, viel bleibt noch zu tun. Eine Zwischenbilanz.

Wenn ich morgens auf­wache, schaue ich vom Bett aus auf mein Bücherregal im Flur. Dort stehen viele gerahmte Fotos. Und auf einem dieser Fotos sehe ich Walter Höllerer zusammen mit KP Herbach und mir. Herbach begründete den Buchhändlerkeller, Höllerer das Literarische Colloquium Berlin. Ich sehe die beiden sehr gern, wenn ich aufwache.

Offenkundig ist das LCB in meinem Leben sehr präsent. An was ich mich erinnere? Die Zusammenkünfte am Großen Wannsee waren immer eine Art Familientreffen. Ich suchte dort in den Sieb­ziger- und Achtzigerjahren Kontakt zu ­anderen Künstlerinnen und Künstlern. Damit war ich nicht allein. Es gab ein sehr großes Bedürfnis nach Austausch im eingemauerten West-Berlin. Und das LCB war ein literarischer Leuchtturm, der weit über die Grenzen hinaus strahlte, auch weit über die Sprachgrenzen hinaus, ein Ort, der immer neue Menschen anzog, von überallher. Menschen wie mich.

Vermutlich ging es vielen so, die nach West-Berlin gekommen waren, denn alle fanden sich dort ein: Dietger Pforte, ­Johannes Schenk, F. C. Delius, Nikolas Born, Christoph Meckel, Hans Christoph Buch, Peter Schneider, Karin Kiwus, Reinhard Lettau, Hermann Peter Piwitt, Rolf Haufs, der Verleger Klaus Wagenbach, der Kulturredakteur Hans Peter Krüger, der Berlinkenner Fred Riedel und viele, viele andere. Fotografiert wurden wir alle von Renate von Mangold.

Meine Erinnerung ans Literarische Colloquium

Ich fuhr selten allein dorthin. Schon in der S-Bahn traf ich Kolleginnen und Kollegen. Wir fuhren zwar in den Südwesten Berlins, ins Grüne, in eine Villa am Wannsee, doch das spielte keine große Rolle. Wichtiger als der Ort, die Räume und der Garten war der geistige Austausch: literarisch, politisch und persönlich. Hier wurde eine Literaturszene geschaffen, ganz abseits vom Betrieb. Und der Impresario ohne große Führungs­absichten war Walter Höllerer. Er brachte uns alle zusammen.

Er war nicht allein. KP Herbach etwa war ebenfalls ein bedeutender Impresario in der West-Berliner Literaturwelt. In dessen Buchhändlerkeller las ich bereits in den frühen Siebzigerjahren aus meinen Gedichtbänden. Und in der Autorenbuchhandlung, damals gleich um die Ecke vom Buchhändlerkeller gelegen, begründeten wir eine Sektakademie – für die Stipendiaten der West-Berliner Institutionen, unter ihnen jene des LCB, die jeden Samstag in der Buchhandlung einkehrten, in der selbstverständlich auch geraucht wurde. Wer Geld hatte, brachte Sekt mit. Wer keines hatte, trank trotzdem mit. Schloss die Buchhandlung am Abend, zogen wir oft weiter in die Paris Bar, die damals auch Angebote für arme Dichter oder Malerinnen oder Musikerinnen hatte. Oder wir gingen ins Diener/Tattersall oder in den Zwiebelfisch. West-Berlin war sehr international. Und wir waren Teil dieser Internationale um den Savignyplatz herum.

Zugleich gab es allerdings noch eine weitere Internationale in West-Berlin, eine Internationale der Arbeiterinnen und Arbeiter, es waren Griechen, Jugoslawen, Türken. Sie arbeiteten in den Fa­briken und Lagerhallen, nähten, putzen, schweißten oder schraubten. Und ich war auch einer von ihnen.

Ich war als Schauspieler nach Deutschland gekommen, mit einem Gastspiel unserer Istanbuler Studentenbühne, das war in den Sechzigerjahren. Ich kehrte zurück in die Türkei, kam jedoch immer wieder nach Deutschland, fuhr nach Frankfurt, ins Ruhrgebiet, nach West-Berlin.

Der Traum vom Schauspieler

Ich wollte schauspielen, bekam jedoch kaum Engagements. Ich musste also anderweitig mein Brot verdienen. So wurde ich zunächst ein Teil der internationalen Arbeiterschaft. Der Weg in die intellektuellen Zirkel blieb mir zunächst weit­gehend verschlossen. Ich musste ihn mir erkämpfen. Aber ich musste auch über­leben. Der Dichter Johannes Schenk riet mir – dem Mann ohne Arbeitserlaubnis –, zu einem „Arbeitsvermittler“ zu gehen. Ich arbeitete also auf dem Friedhof, auf dem Bau, am Band, ich putzte. Manchmal war ich nur ein oder zwei Tage an einem solchen Arbeitsplatz, manchmal ging es über Wochen. Dort traf ich Türken, Jugo­slawen, Griechen und andere, es kam zu Verbrüderungen am Band oder auf dem Gerüst. Das hielt oft nur einige Tage, doch es half mir, die kleine Internationale der Werktätigen zu sehen, ihre Mitglieder kennen zu lernen. Es half mir, dem Sohn eines Istanbuler Ingenieurs, der als Schauspieler gekommen war und Schriftsteller werden wollte, sein literarisches Arbeitsfeld auszumachen.

Die Menschen, mit denen ich Seite an Seite arbeitete, hatten wenige Worte, lebten für sich, waren aus Dörfern in die große Stadt gekommen, waren dem Lockruf des Geldes gefolgt und der Verheißung der Freiheit. Sie konnten nicht zu ihren deutschen Vorgesetzten sprechen, nicht zu ihrem Möbelhändler, nicht zu ihrer Supermarktkassiererin. Und niemand wollte sie verstehen. Also bauten sie sich eigene Möbelhandlungen, eigene Supermärkte, sie wurden ihre eigenen Vor­gesetzten.

Die Deutschen allerdings verstanden sie noch immer nicht. Und sie verstanden die Deutschen nicht. In meiner Erzählung „Hass“ von 1982 (erschienen im Band „Wir neuen Europäer“) heißt es:

„Habe ich mir denn keinen Anzug gekauft? Doch.
Habe ich mir keine Krawatte umgebunden? Doch.
Sind meine Schuhe etwa nicht neu? Doch.
Habe ich mich denn nicht gründlich rasiert? Doch.
Trage ich keinen achtzehnkarätigen Ring mit Goldmünze am Finger? Doch.
In meiner Tasche stecken auch Markscheine.
Warum also halten diese Kerle mich nicht für einen Menschen?
Arbeite ich denn nicht seit Jahren, um auf einen grünen Zweig zu kommen? Habe ich nicht deshalb so gespart, mir nicht einmal Essen und Trinken gegönnt, jede erdenkliche Not auf mich genommen, mich mit einem Leben voller Opfer begnügt?
Sieht man denn nicht, dass ich ein zweistöckiges Haus gebaut habe? Was also ist der wahre Grund dafür, dass man mich so demütigt?
Warum bin ich bloß so?“

Ich wollte, dass die Leute wissen, warum wer wer ist. Ich begann zu vermitteln, mit Worten, mit Literatur. Die meisten Arbeiter und Arbeiterinnen, die ich kennenlernte, kamen mit den Jahren zu ein bisschen Wohlstand, sie stiegen auf. Und auch ich kam zurück in die bürgerliche, die intellektuelle Sphäre – nun allerdings nicht mehr vornehmlich als Schauspieler, sondern als Dichter und Rundfunkredakteur beim Sender Freies Berlin. Ich war ein Angestellter eines deutschen Senders, der ein Programm für die türkische Community machte. Ich war kein Botschafter des türkischen Staates und wollte das auch gar nicht sein.

Wie die Menschen verändert wurden

Die Filme im SFB, bei denen ich mitspielte oder zu denen ich Ideen lieferte, wirkten denn auch mehr in die deutschsprachige Bevölkerung hinein als in die türkischsprachige. Sie sollten eine Szenerie beschreiben, sollten realistisch zeigen, wie türkische Arbeitsmigranten in Kreuzberg lebten, sollten helfen und die Situation der Menschen in Kreuzberg verbessern. Das gelang diesen Filmen vielleicht. Was ihnen jedoch ganz sicher gelang: Sie veränderten zudem die Menschen in Berlin-Wilmersdorf oder im Grunewald.

1982 nahm die Band Ideal das Stück „Aşk, Mark ve Ölüm“ auf, der Text war ein Gedicht von mir, der deutsche Titel lautet: „Liebe, D-Mark und Tod“. Ideal war zu diesem Zeitpunkt eine äußerst erfolgreiche Band, ein Höhepunkt der Neuen Deutschen Welle, ihre Songs waren in den Hitparaden. Die Sängerin Annette Humpe erkundigte sich bei mir, wie der türkische Text auszusprechen sei. Sie übersetzte den Text allerdings nicht, auch nicht auf dem Plattencover. Dem „Spiegel“ sagte sie damals: „Wenn du wissen willst, wovon die Rede ist, musst du einen Türken fragen.“

Die Türken wurden nicht oft gefragt. Aber sie wurden wahrgenommen, immer mehr als Feinde, als Unterwanderer, als Last. Oft jedoch auch als Freunde, Nachbarn, Menschen. Und die Deutschen lernten langsam – doch immerhin –, die türkische Küche zu schätzen.

Was mich an Deutschland reizte, war Brecht

Als ich nach Deutschland kam, kam ich, um zurückzugehen. Ich wollte Brecht in Deutschland abholen und in die Türkei bringen. Ich wollte die fast noch ständisch organisierte Türkei verändern, sie internationaler machen, offener. So wie es schon die wenigen großbürgerlichen Dichter in der Generation vor der unsrigen versucht hatten, indem sie nach Großbritannien reisten oder in die USA. So lief es schon seit mehr als hundert Jahren– man ging in die Fremde, sah dort ­etwas ganz Neues, und wollte es danach in die Türkei bringen, sei es, dass man ­Lizenzen für Stücke erwarb oder Texte übersetzte, sei es, dass man imitierte und ähnlich arbeitete wie die Intellektuellen des Westens.

Doch ich merkte, dass es meine Auf­gabe war, hier in Deutschland die Kultur zu transformieren. Denn es gab viele Türken hier, die für sich lebten, von der deutschen Gesellschaft gemieden, die sich selbst außerdem abschotteten. Hier in Deutschland, so merkte ich, war es ebenso wichtig, die Kultur des Umgangs, der gegenseitigen Wahrnehmung und Wertschätzung zu verändern. Eine Aufgabe, die die Türken in Deutschland ebenso anging wie die Deutschen in Deutschland.

Viel ist heute von Integration die Rede. Doch man muss verlangen, dass beide Seiten voneinander lernen, dass sich beide gemeinsam verändern. Ich war der Türke, der Deutschland in die Türkei holen wollte, nun bin ich ein Deutscher, der die Türkei nach Deutschland geholt hat. Das war mein Programm. Die Türkei ist dabei nicht die Türkei geblieben, Deutschland ist nicht Deutschland geblieben, und beiden tut es gut, sich zu verändern – auch wenn nicht alle diese Veränderung wollen. Doch selbst die, die denken, man könne die alte Türkei und das alte Deutschland beibehalten oder abermals begründen, wissen tief in ihrem Inneren bereits, dass sich die Türkei und Deutschland grundlegend verändert haben. Und dass dieser Prozess nicht mehr revidierbar ist.

Ein Satz, an den ich glaube, lautet: „Wer sich gegen fremde Kulturen verschließt, diese nur als Entfremdung ­empfindet, Feindbilder entwickelt, erweist der eigenen Kultur einen Bärendienst.“ Ich wünsche mir einen Austausch der Kulturen: im Gespräch, an literarischen Orten und Plätzen, mit­einander, nicht gegeneinander.

Ich habe Konflikte nie schöngeredet. Aber ich habe immer vermittelt. Meine Arbeit hat – glaube ich – Früchte getragen. Sie wird von einer anderen Generation aufgenommen und auf deren Weise fortgesetzt. In einem anderen Ton, mit neuer Dringlichkeit, anderen zeitgemäßen Diskursen. So wie es sich für die Jüngeren gehört. Was ich aber feststelle ist: Es geht noch immer um Ausgrenzung und Sichtbarkeit, in der Gesellschaft und im literarischen Betrieb. Es geht um Ankommen und Angenommensein. Es geht um viele Jahre der Kränkung, die uns in den Kleidern stecken. Wir trugen Kleider, die nicht passten. Heute beanspruchen wir Maßanzüge. Viele von uns tragen sie auch schon.

Mehr Begegnung wagen

Meine Gedichte sollten zwischen der türkischen und der deutschen Kultur eine Brücke bilden. Mit der Zeit stellte sich aber heraus, dass die beiden Enden der Brücke nicht mehr mit ihren Ufern verbunden waren. Dabei darf man sich nicht vorstellen, dass sich die Brücke verkürzt hätte. Im Gegenteil, mir kommt es so vor, als wäre diese immer länger geworden.

Wir sollten diese Brücke wieder verkürzen. Um es mit dem großen Sozial­demokraten Willy Brandt zu halten: mehr soziale und kulturelle Begegnung wagen, mehr ernstgemeinte Integration. Denn der politische „Enthusiasmus“, den wir kürzlich in Form von Autokorsos und Fahnenschwenken auf deutschen Straßen sahen – wie nach einem gewonnen Fußballspiel –, kann sehr schnell auf die schiefe Bahn geraten, wenn er fehlgeleitet wird.

Auch deshalb brauchen wir eine neue, gemeinsame Kulturperspektive, diese sollte unser Denken bestimmen. Und wir schaffen das, weil wir es schaffen müssen. Ich vertraue da auch auf die mir nachfolgende jüngeren engagierten Leute im Kulturbetrieb.

Aras Ören, geboren 1939 in Istanbul, lebt seit 1969 in Berlin. Diese Rede, die wir in vom Autor selbst gekürzter Fassung drucken, hielt er als Eröffnungsrede zu „Assemblage Berlin“, einem gemeinsamen Festival von LCB und FU Berlin.